Klassiker und Improvisieren?

Liebe Klavierliebhaberinnen und -liebhaber,

als klassischer Pianist – gleichgültig ob Anfänger oder Fortgeschrittener – braucht man in der Regel eine Vorgabe, um Musik zu spielen: Die Noten. Und daran haben sich seit vielen Generationen alle immer festgehalten. Immer neue Erkenntnisse von bekannten Werken kommen ans Tageslicht. Immer wieder werden neue Manuskripte gefunden, werden die meistenteils nicht gut leserlichen Handschriften der Komponisten ausgewertet, um bessere Erkenntnisse zu erhalten, was der Komponist genau gemeint hat, wenn er ein Motiv oder eine Phrase schrieb. Doch schauen wir einmal zurück: Bach improvisierte auf der Orgel und dem Cembalo, seine Söhne taten dies, auch Mozart und vor allem Beethoven „fantasierten“ am Instrument, wie man das früher nannte. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben, denn irgendwann im 20.Jahrhundert begannen Pianisten „nur“ Pianisten zu sein und spielten Werke aus Noten. Der Pianisten-Komponist wurde seltener, keiner wagte es mehr vor einem Publikum zu improvisieren. Doch wenn man die Ohrenzeugenberichte gerade Beethoven liest, der stundenlang ohne Vorgaben am Instrument fantasierte, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie Wettstreite zwischen Tastenkünstlern im Barockzeitalter abliefen, dass sie nämlich auf ein gegebenes Thema ganze Fugen und andere Formen aus dem Stehgreif entwickelten – dann erkennt man, dass diese Art des Klavierspiels eine besondere Freiheit für den Spieler offenbart.

Heutzutage ist das Klavierspiel stark pädagogisiert, man achtet darauf, dass alles so gespielt wird, wie es geschrieben steht. Das ist gut so, denn die Komponisten wollten, dass man ihre Werke recht genau wiedergibt. Doch das freie Spiel am Klavier wird dabei vollkommen außer Acht gelassen. Allein in der Welt der Organisten und im Jazz ist das improvisierte Spiel noch vorhanden. Und oftmals schauen die klassisch ausgebildeten Pianisten ein wenig neidisch auf die Jazzer, die da so frei mit dem Klang und den Formen umgehen können.

Vor kurzem war ich Zeuge eines Improvisationsunterrichts der Pianistin Galina Vracheva in Lugano in der Schweiz. Sie unterrichtet dort das Improvisieren für klassisch ausgebildete Studenten am Klavier. Es ist bemerkenswert wie sehr die Jungpianisten sich selbst finden, ihren Klang, ihre Form. Das bedeutet nicht, dass man die Musikgeschichte ad acta legt, sondern man integriert sie, die Formen, die Stile. Der eine ist stärker von Strawinsky und Prokofiew beeinflusst, der andere vielleicht von den Barockkomponisten. Das hört man. Aber all diese jungen Musiker fühlen sich plötzlich befreit, befreit von vermeintlich falschen Tönen, befreit von der Idee, dass man etwas „falsch“ spielen könnte. Auch das Körperbewusstsein ändert sich mit dieser Art des Spiels. Das ist etwas, was alle jungen Musiker erleben sollten, neben ihrer ernsthaften Beschäftigung mit dem Notentext, mit der exakten Wiedergabe von Musik, die aber dennoch viele Freiheiten in sich birgt. Diese Art des improvisatorischen Umgangs mit dem Instrument hilft letztendlich auf vielen Gebieten, auch wenn man zurück zum Notentext geht. Vor allem fördert es die Individualität der Spieler – und das ist etwas, was man nicht hoch genug anrechnen kann.

Solch eine Art von Ausbildung am Instrument sollte für alle Spieler an den Tasten in aller Welt obligatorisch werden, denn auf diese Weise kann man stärker Individualisten erziehen, die Persönlichkeit im Spiel herausarbeiten. Aber letztendlich muss dafür auch eine Offenheit für die Lehre vorhanden sein. Man kann es nur raten, dass sich diese Art von Zusatzausbildung durchsetzen wird.

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