Pianonews 03 /2008

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Leseprobe:

Jean-Bernard Pommier

Nachdenklicher Perfektionist

von Carsten Dürer

Der Name dieses französischen Pianisten ist den meisten Lesern wahrscheinlich mehr aus den 80er und dem Beginn der 90er Jahre geläufig. Doch Jean-Bernard Pommier ist immer noch da, ist einer der beachtlichsten Pianisten, die weltweit aktiv sind.

Und seine schon älteren Gesamteinspielungen aller Beethoven - Sonaten und aller Mozart-Sonaten und -Konzerte können auch heute noch als Referenzeinspielungen gelten, die besonders die Hörer begeistern, für die das Werk mehr im Vordergrund steht als der Pianist. Pommier ist ein ernsthafter, aber ein zurückhaltender Künstler, einer, für den das Werk des Komponisten, der Notentext wichtiger ist als ganz persönliche, vordergründige Ansichten. Die Aussagekraft kommt bei ihm aus der langjährigen Beschäftigung mit den einzelnen Werken. Und damit ist er einer der Pianisten, die die Ideen einer fast vergangenen Pianistengeneration aufrechterhalten und ihnen folgen.


Wir trafen den heute 64-jährigen, aber immer noch jugendlich wirkenden Jean-Bernard Pommier in Amsterdam, einem seiner drei Wohnorte: Er ist mit einer russischen Geigerin verheiratet und hat daher mit ihr eine Wohnung in St. Petersburg und natürlich auch in Béziers, seinem Geburtsort. Es entspann sich ein spannendes Gespräch über die Ansichten über Musik im Allgemeinen, über die Art, wie man empfinden muss, um die Musik auf ein Publikum zu transportieren, was man beachten sollte, um ein Werk immer wieder so faszinierend erklingen zu lassen, als würde es soeben das erste Mal vom Interpreten gespielt.
 
Jean-Bernard Pommier ist in Deutschland heutzutage nicht so präsent, wie man es vielleicht wünschen würde. Seine frühen Einspielungen bei Virgin Classics mit Werken von Debussy, aller Chopin-Walzer, seine Kompletteinspielung der Beethoven-Sonaten, die bis in die 90er Jahre andauerte, ließen ihn mehr präsent sein, nicht nur in den Medien, sondern auch im Konzertsaal. Seine intensivste Zusammenarbeit in Deutschland reicht allerdings in die Karajan-Ära zurück, zu dem er einen engen Kontakt hielt.

Die ersten Schritte und große Lehrer

Pommiers Vater war Organist in Béziers. War dies die Initialzündung für ihn, das Musizieren im Alter von vier Jahren zu beginnen? Und wenn ja, warum nicht das Orgelspiel, sondern das Klavierspiel? „Ich würde sagen, die Antwort ist: das Tastenspiel. Ich erinnere mich zwar nicht mehr genau, aber meine Familie hat es mir immer wieder erzählt, dass es einen Zwischenfall gab, der den Auslöser bedeutete. Aber zuerst muss ich noch etwas anderes erwähnen und erzählen: Ich bin das achte von acht Kindern, was sehr wichtig war. Ich wurde also 1944 geboren, in eine Zeit, als alles andere wichtiger war, als sich um meinen Musikunterricht zu kümmern, es war gerade das Ende des Krieges, alles war zerstört. Aber es gab ein Zeichen, das mit der Orgel in Zusammenhang steht. Mein Vater vergaß mich eines Tages nach der Messe in der Kirche, an der Orgel. Er dachte, ich wäre bereits mit meiner Mutter und meinen Geschwistern aus der Kirche gegangen. Er schloss also die Kirche ab und ich war allein. Und als mein Vater draußen war, hörte er auf einmal die Orgel spielen und war schockiert. Er schloss wieder auf, ging zurück in die Kirche, rannte zur Orgel hoch und sah mich dort sehr vorsichtig auf den Tasten spielen, improvisieren, da die Orgel immer noch Restluft hatte. An diesem Punkt startete meine musikalische Karriere“, erklärt der Franzose schmunzelnd. Pommiers Heimatstadt Béziers war in einer Gegend, in die die Deutschen laut Vereinbarung auch während des Krieges nicht einmarschierten. Entsprechend, so erklärt Pommier, ließen sich in der Region zahlreiche Juden und Russen nieder, vor allem auch verfolgte Künstler. „Zu dieser Zeit kam auch eine ukrainische Pianistin, Mina Koslowa, nach Béziers. Sie war bereits um die 50 Jahre, hatte ihre Karriere aufgegeben. Sie war sehr befreundet mit Vladimir Horowitz, mit dem sie gemeinsam aufwuchs. Wie auch immer, mein Vater kannte natürlich als Organist der Kirche fast jeden in der Gemeinde. Und nachdem er mich die Orgel hatte spielen hören, brachte er mich sofort zu ihr. Und sie sagte sofort: Natürlich, morgen beginnt der Junge bei mir zu lernen.“ So kam es, dass sein gesamtes Leben sich ab diesem Zeitpunkt um die drei Stunden Unterricht bei Mina Koslowa drehte und organisiert wurde. „Drei Stunden, jeden Tag, außer Sonntag. Von 9 bis 12 Uhr war ich bei ihr, studierte alles, was wichtig war. Und dies im Alter von vier bis 11 Jahren. Ich erwähne das, weil dies ein Geschenk Gottes war. Sie war nicht nur eine gute Pädagogin, sondern auch eine wunderbare Pianistin aus der russischen Klaviertradition, in der ich nun studierte.“ Das war der Beginn.

Doch die Heimat von Pommier war auch der Geburtsort eines anderen berühmten französischen Pianisten: Yves Nat. „Mein Vater kannte Yves Nat und als ich acht Jahre alt war, schlug Mina Koslowa meinem Vater vor, mich zu Yves Nat zu bringen. So ging ich nach Paris und begann bei ihm alle zwei Wochen zu studieren. Natürlich war es etwas anderes als ein regulärer Unterricht, er war wie ein Großvater für mich. Wir fuhren die gesamte Nacht durch, um nach Paris zu gelangen und einen Tag mit ihm, seiner Frau und seinem Hund zu verbringen, der sogar mit uns am Mittagstisch saß.“ Diese privaten Unterrichtseinheiten von acht bis 11 Jahren waren eine Bereicherung der Ansichten des jungen Pommier. Seine erste Konzerterfahrung hatte Pommier bereits mit sieben Jahren in Béziers mit Mozarts Klavierkonzert KV 488 gesammelt, aber seinen ersten Auftritt in Paris verdankte er Yves Nat, der ihn in eines seiner Konzerte einlud. „Das war 1954. Ich spielte eine Englische Suite von Bach, die ‚Arabeske’ von Schumann und eine Haydn-Sonate, die in D-Dur.“ Ein beachtliches Programm für einen Zehnjährigen. „Noch bevor Yves Nat verstarb, erklärte er meinem Vater, dass er mich zu einem seiner Schüler, zu Pierre Sancan nach Paris bringen sollte, um bei ihm weiterzustudieren.“ Das war dann am Pariser Conservatoire im Jahre 1958. Dort verblieb er bis zu seinem Abschluss im Jahre 1961. Doch die Karriere hatte schon ihren Anfang genommen. 1960 nahm Pommier am Klavierwettbewerb der Jeunesses Musicales in Berlin teil und gewann den ersten Preis: „Das war noch zu der Zeit, als ich im Conservatoire war. Man hatte mich gefragt, ob ich dort nicht teilnehmen wolle, so fuhr ich hin und gewann erstaunlicherweise den ersten Preis. Den zweiten Preis erhielt Maria João Pires.“ 

Tschaikowsky-Wettbewerb und seine Folgen

Doch in jeder biografischen Beschreibung Pommiers wird erwähnt, dass er im Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau im Jahre 1962 der jüngste Finalist war. Ein Ereignis? Was passierte danach mit seiner Karriere? „Wissen Sie, nachdem im Tschaikowsky-Wettbewerb zuvor Van Cliburn gewonnen hatte, war dieser Wettbewerb mit einem Schlag berühmt. So achtete man in der Öffentlichkeit noch viel stärker auf das, was danach in diesem Wettbewerb passieren würde.“ Also brachte es ihm wirklich einen Karriereschub, auch wenn er diesen Wettbewerb nicht gewann? „Oh ja, er brachte alles für mich“, erklärt er mit großen Augen und fährt fort: „Ich erhielt sofort Konzert-Engagements, zudem wurde ich noch 11 Mal in die Sowjetunion eingeladen, um dort zu spielen.“ Doch Jean-Bernard Pommier hatte auch schon zuvor eine Art von Netzwerk aufgebaut, das ihm half. „Als ich noch in Béziers lebte, reiste ich nach Prades, um Pablo Casals vorzuspielen, den mein Vater wiederum kannte. Er wollte einfach von ihm wissen, ob ich mich in der richtigen Richtung entwickeln würde. Das war sehr wichtig für mich, denn ich spielte für Casals und er wollte, dass ich für Clara Haskil, für Myra Hess, für Rudolf Serkin, für all die großen Künstler spielte, die auch zu diesem Festival in Prades kamen. So fuhr ich mehrere Jahre hintereinander immer wieder zu diesem Festival, spielte auch für William Kappell, Horszowski und andere. Das war zwischen 1950 und 1955. 15 Jahre später traf ich dann alle diese Leute in den USA wieder, als ich dort für eine Weile immer wieder auftrat. Es war in diesem Moment, als würde eine Art Familie sich wiederfinden.“ Dennoch bedeutete die Teilnahme am Tschaikowsky-Wettbewerb den eigentlichen Durchbruch, Eugene Istomin arrangierte einen längeren Aufenthalt in den USA für ihn. „Glücklicherweise verlief alles sehr leicht und stringent. Auch die Sache mit Herbert von Karajan war ein Zufall: Er sah mich im französischen Fernsehen in der Nacht, als man eine Aufnahme von mir mit der Liszt-Sonate übertrug. Er griff zum Telefon und erkundigte sich, wer dieser Junge sei, und engagierte mich nach Salzburg.“ Allerdings war dies noch kein Solokonzert, sondern er sollte das 1. Klavier im Konzert für vier Klaviere von Bach mit Karajan selbst am Klavier und mit Justus Frantz und Walter Klien spielen. Aber schon in der Pause der Probe bot ihm Karajan ein Konzert in Berlin an. Ähnliches passierte ihm mit Celibidache. Man erklärte dem berühmten Dirigenten, dass man ein Konzert mit diesem Jungen vorschlagen würde. So kam er zu einem Pariser Konzert von Pommier und fragte ihn danach, was er gerne mit ihm spielen würde: „Ich sagte: Alles, was Sie wollen. Er erklärte, dass man dies doch in Ruhe besprechen solle. So kam er am kommenden Tag zu mir und wir verbrachten fünf intensive Stunden miteinander, in denen wir alles Mögliche diskutierten.“ Immer wieder wurde er von diesen so unterschiedlichen Dirigenten eingeladen, mit ihnen zu konzertieren, auch wenn er den Namen Karajan Celibidache gegenüber nicht erwähnen durfte, Karajan ihn dagegen stichelnd fragte, wie es dem anderen Dirigenten ginge. „Ich befand mich zu dieser Zeit zwischen Karajan und Celibidache auf der einen, und Daniel Barenboim und Zubin Mehta auf der anderen Seite“, sagt er lachend. Aber auch zu vielen anderen Dirigenten pflegte er gute berufliche Kontakte.

Repertoire und Einspielungen

Wie war es mit dem Repertoire? Verspürte er jemals den Druck, mehr französisches Repertoire spielen zu sollen, da er Franzose ist, als anderes Repertoire? „Nein, das war bei mir niemals der Fall. Bei mir stand immer die Qualität im Vordergrund, mein Spiel, niemals meine Nationalität. Vielleicht kommt dies auch aufgrund meiner Ausbildung zustande. Ich habe sehr viele Organisten getroffen, habe auch lange immer wieder in Paris Orgel gespielt. Zum anderen meine Lehrerin Mina Koslowa, die mehr auf die Musik achtete als auf andere Dinge. Mir sagte man nicht, dass ich jenes so oder so spielen sollte, sondern man fragte mich immer genau, warum ich dies so spielte, und nicht anders. Es war mehr eine transzendentale Ausbildung im Bereich der Musik als eine rein technische.“
Aufgenommen hat er vielfach komplette Zyklen, die kompletten Beethoven-Sonaten für Erato, die kompletten Mozart-Sonaten. Was ist so besonders daran, alles komplett einspielen zu wollen? „Nun, das liegt an den Wünschen einer Schallplattenfirma. Als ich meinen ersten Vertrag bei EMI unterschrieb, war ich gerade einmal 19 Jahre. Und als man mich fragte, ob ich Schumann aufnehmen möchte, sagte ich natürlich ja. Und ich sollte dann die komplette Klaviermusik von Debussy einspielen, aber dazu kam es nicht mehr ganz, da wir die Zusammenarbeit in der Mitte unterbrachen. Wie auch immer, man entspricht den Wünschen einer Schallplattenfirma. Zudem waren dies auch noch ganz andere Zeiten, als ich diese Aufnahmen gemacht habe.“ Dennoch, das Repertoire lässt sich bei Pommier kaum festlegen, fast alles hat er gespielt, von Bach bis Schönberg, kaum Ausnahmen sind auszumachen, auch wenn es vielleicht immer wieder einmal Schwerpunkte gab. Erklärend sagt er: „Ich war mein ganzes Leben lang sehr hungrig nach Musik. Ich habe alles in mich hineingefressen, habe alles versucht zu spielen. Ich hatte die gewisse Fähigkeit, sehr schnell zu lernen. Heutzutage ist es etwas langsamer geworden“, schmunzelt er mit Hinweis auf sein Alter. „Aber ich sage niemals nein zu einem neuen Stück. Wenn ich einige meiner Kollegen sehe, die immer wieder sagen: ‚Oh nein, das und das spiele ich nicht, vielleicht in zwei Jahren.’ Dann aber sage ich: ‚Stell doch einfach die Noten aufs Pult und spiel es durch.’“ Er lacht bei dieser Aussage über sich selbst.
Momentan spielt Pommier erstmals in seinem Leben die 32 Klaviersonaten von Beethoven zyklisch in mehreren Städten Europas, in London, in Paris, in Lissabon und in St. Petersburg. „Ein weiterer Ort wird ein kleiner Ort in Frankreich sein, wo eine wunderbare kleine Konzertserie von einem Freund von mir veranstaltet wird“, sagt er und ergänzt, dass Pianisten wie Lupu und Ashkenazy dorthin gehen, da sie mit einem hervorragenden Wein honoriert werden. Warum aber spielt er diese Sonaten chronologisch nach dem Entstehen? „Das war ein Wunsch des Veranstalters in London. Ich war dagegen, da ich der Meinung bin, dass es kein sehr gutes Konzept ist. Verstehen Sie: Ein Komponist schreibt über sein gesamtes Leben 32 Klaviersonaten. 100 Jahre nachdem er verstorben ist, sieht man, dass es bei diesen 32 Sonaten interessante Bezüge zwischen einigen zu vollkommen unterschiedlichen Zeiten entstandenen Sonaten gibt. Das ist spannend und ist auch ein wichtiges Indiz für das Überleben dieser Musik.“ Wie denkt er über seine Art des Zugangs aus früheren Zeiten? Denn immerhin wurde der Beethoven-Sonaten-Zyklus auf CD bereits zu Beginn der 90er Jahre abgeschlossen. Hat sich die Sichtweise verändert? „Das ist ein wichtiger Aspekt: Ich würde sagen, dass das Konzept grundsätzlich und organisch einfach vorhanden ist. Denn auch zu dieser Zeit war es nicht anders für mich, die Musik zu lesen, als es heutzutage der Fall ist. Man muss strukturell verstehen, was das Stück sagen will. Die jüngeren und die mittelalten Pianisten geben diesen Sonaten eine andere Substanz. Im Besonderen im Bereich der Tempi. Das heißt nicht, dass sie schneller oder langsamer spielen. Ein Satz ist wie ein Tunnel, der vorwärtsführt. Wenn man die Tempi innerhalb dieses Satzes verändert, erhält man andere Proportionen. Ich will versuchen, mich davor zu bewahren. Natürlich spielt man anders mit 20 als mit 60 Jahren, denn in der Zwischenzeit hat man mehr und mehr erkannt, warum man etwas auf eine bestimmte Art spielt. Aber wenn man ein Stück spielt, dann sollte es so wirken, als wäre es das erste Mal, dass man dieses Werk spielen würde. Aber daher muss man auch genau wissen, was man macht, um es so klingen zu lassen. Man muss die alten, in der Jugend überlegten Dinge wieder über das Stück stülpen. Es gibt einen Grund, warum es so ist: die Griechen. All unsere Musik kommt aus der antiken Geschichte, aus der griechischen und römischen Philosophie, von Sokrates und Platon, aus der Physik dieser Zeit – dort liegen die Wurzeln. Dort wie in der Musik gibt es ein wichtiges Wort: Agogik. Der Wortstamm findet sich in allen möglichen Worten des Lebens: Pädagogik, Synagoge ... alles ist mit dieser Idee verbunden. Ein Interpret muss ein Stück angehen, als würde er zu einem Ziel kommen wollen, aber er muss dieses Ziel dadurch erreichen, dass er einen bestimmten Weg durchschreitet. Heutzutage nimmt man das Flugzeug, den Helikopter, um eine Wegstrecke zu überwinden; aber wenn man nicht selbst auf dem Boden läuft, dann lernt man nicht das Stück kennen. Da gibt es dann noch das wichtige Phänomen der Zeit.“ Diese fixen Punkte machen es, so Pommier, möglich, dass man zu einem Stück immer und immer wieder wie zu einem neuen Werk zurückkehren kann.
Wenn man nun aber zu einem Stück zurückkehrt, ändert sich die Interpretation nicht auch durch die Erfahrung, die emotionale Erfahrung des Lebens, die man in auch noch so kurzer Zeit zwischen zwei Aufführungen gemacht hat? Fügt man diese emotionale Ebene der Erfahrung nicht dem Stück hinzu? „Natürlich und Sie haben schon die Antwort gegeben“, lacht er. Einmal hat Pommier gesagt, dass es nicht so wichtig sei, die Schönheit des Klangs in den Vordergrund zu stellen, sondern die Wahrheit des Werks. Wenn man dann aber seine Aufnahmen anhört, dann fällt gerade seine wunderbare Tongebung auf. Ist er sich dessen bewusst, macht er es bewusst? Wenn ja, warum ist der Klang dann nicht so wichtig? „Klang ist ein ehrliches Vehikel. Wenn man einen Klang wählt, dann sollte der Klang gerade, klar und großzügig sein. Wenn man sich selbst zuhört und man einen Klang hässlich findet, dann sollte man sich selbst nicht erlauben, so fortzufahren. Wenn man dem Klang Aufmerksamkeit widerfahren lässt und man ihn dann augenblicklich verändert, dann klingt es auf einmal weitaus besser. Man muss sein eigener Alliierter in Bezug auf den Klang werden. Das bedeutet, dass ich das Klavier respektiere. Ich denke, dass ein Klavier der Hand antwortet. Die Hand ist ein Organ, das aufgewärmt werden muss, bei dem man jegliche kleine Berührung in den Fingern fühlen muss. Ein Pianist muss dieser Entwicklung seiner eigenen Fähigkeiten, der Hand zu lauschen, eine immense Aufmerksamkeit widmen. Es ist ein Phänomen, das meist in Widersprüchlichkeiten resultiert. Man hat eine immense Energie in sich. Diese Energie muss man nach außen tragen, um diese Energie in Klang umzuwandeln. Das kann aber auch etwas vollkommen Leises sein. Der Klang selbst bedeutet gar nichts, man hat immer irgendwelche Geräusche um sich. Die Energie muss aber in Klang umgesetzt werden, nicht in Geräusche.“ Neben diesen Ansichten, nimmt er noch ein weiteres Gedankenspiel vor: „Wir müssen uns doch selbst fragen: Warum mögen wir ein bestimmtes Stück Musik? Und: Warum existiert dieses Stück Musik, was sind die Gründe dafür? Gibt es überhaupt einen Grund? Und dann müssen wir die Frage beantworten, ob wir ein kleiner Teil dieses Werks sein können, um dieses Stück Musik so werden zu lassen, dass es existiert, dass es gemocht wird, dass wir es mögen. In diesem Moment werden wir den Zugang zu einem Musikstück verändern. Ich versuche nicht die Musik zu erklären, ich versuche aber mit ihr zu leben.“

Musikalische Gedanken

Jean-Bernard Pommier fühlt sich als echter Interpret im besten Sinne, als ein Künstler, der sich viele Gedanken über Musik, die Wirkung und das Transportieren dieser auf ein Publikum gemacht hat. Vielleicht dadurch wirken seine Darstellungen von unterschiedlichen Werken immer so ehrlich, so nah am Werk, so als würde man erstmalig die Wahrheit in dieser Musik hören. Er fährt fort: „Um auf den Weg zum Ziel zurückzukommen: Innerhalb eines Satzes sollte man versuchen, den organischsten Weg zu finden, um ans Ziel zu gelangen, dann ist dieser Satz dem Leben am nächsten. Zahlreiche Interpreten haben beispielsweise bei Schumann oder Brahms immer wieder überzogene Expressivität in die Werke hineininterpretiert. Aber wenn man in die Noten schaut, und wenn man dies in Relation zu den Harmonien setzt und erkennt, warum eine bestimmte Harmonie auf die vorangegangene folgt, dann erkennt man, dass die Aussagekraft in dieser Musik selbst steckt. Und Brahms war vielleicht der Erste in dieser Zeit, der beispielsweise den Ausdruck ‚non troppo espressivo’ benutzt, da er nicht wollte, dass man seine Musik – auch nicht in seiner Zeit – über Gebühr expressiv spielt.“
Mit seiner Art des Spiels, mit seiner Art des Denkens über Musik: Ist er eine Art Bewahrer einer Spieltradition, die auszusterben beginnt? „Ich bin ja auch schon alt“, sagt er grinsend und fügt aber dann ernsthaft hinzu: „Es ist eine Art Paradox in meinem Leben. Manches Mal, wenn jemand hört, dass meine Frau mit dem Pianisten Pommier verheiratet ist, erhält sie als Antwort: ‚Lebt er noch?’ Ein anderer fragt: ‚Oh, spielt er immer noch Klavier?’ Das liegt daran, dass ich so früh begonnen habe. Es ist nun einmal ein Teil meiner Erziehung, dass ich von großartigen Künstlern umgeben war, die unglaublich gut zu mir waren – es ist für mich nun Zeit, mich dieser Tatsache zu erinnern ...“, sagt er nachdenklich. „Was aber meint man mit Tradition? Für mich ist Tradition auch immer der Weg nach vorne, allerdings mit dem Wissen aus der Vergangenheit.“

Ist es denn bei all diesen zuvor angestellten Überlegungen wichtig, die Kontrolle zu behalten? „Was heißt das denn, die Kontrolle behalten? Ich denke, dass es kaum ein Limit gibt, exakt zu spielen. Das rhythmische Element ist dabei sehr wichtig. Und ich meine nun nicht die niedergeschriebene Rhythmik eines Werkes, sondern die intuitive Rhythmik, die man aus dem Körper heraus spürt. Und dann kommt noch die Akustik ins Spiel. Und ich meine nicht allein die Akustik des Raums, sondern die Akustik, die man noch gar nicht wahrnimmt. Das bedeutet: Man muss das Werk genau kennen, um im Voraus zu hören, was an Klang kommen soll. Dieses Element müssen wir entwickeln, und dieses Element müssen wir wieder – auch für die Musikausbildung – entwickeln, da junge Menschen sehr viel von Lärm und Geräuschen umgeben sind, so dass sie dieses Element nicht wirklich zu entwickeln verstehen.“ Über die Kontrolle sagt er auch: „Man muss so lange die Kontrolle behalten, bis man merkt, dass man ein Risiko eingehen kann.“ Jean-Bernard Pommier ist ein emotionaler Intellektueller, ein Pianist, der die Werke und ihre Bedeutung durchdringt, bevor er mit dem Werk auf eine Bühne geht. Wünsche bleiben offen: „Ich würde gerne die Gesamteinspielung von Debussy vollenden“, sagt er und fügt hinzu, dass er wisse, dass er auch wieder Aufnahmen machen sollte – und lächelt wissend und ein Stück weise.

 

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