Pianonews 06 /2008

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Begleiter mit Tiefe

Graham Johnson

Von: Carsten Dürer

Graham Johnson gehört zu den Pianisten, die sich seit Jahrzehnten dem Begleiten von Sängern widmen. Dabei gehört der in Zimbabwe geborene Pianist, der seit langem die englische Staatbürgerschaft hat, in eine Reihe von weltweit anerkannten Lied-Begleitern, die mit Gerald Moore und Geoffrey Parsons bereits eine lange Traditionslinie aus dem Inselreich in die Welt tragen. Kaum ein heute bekannter Name einer Sängerin oder eines Sängers, mit der oder dem Johnson nicht schon gearbeitet hat. Dabei ist er nicht etwa konzentriert auf die Zusammenarbeit mit bekannten Sängern, sondern setzt sich gerade intensiv für Nachwuchssänger ein. Graham Johnson ist aber nicht nur ein großartiger Pianist und Begleiter, er ist auch ein Intellektueller, der sich intensiv mit der Literatur beschäftigt und eine der großartigsten Sammlungen von Erstausgaben von Gedichten und Notenausgaben von Liedern besitzt. Wir besuchten Graham Johnson in seinem Londoner Haus und trafen einen Musiker, der für seine Sicht der Dinge brennt, der offen über seine Ansichten spricht und sich auch erstaunt zeigt, wie junge Musiker oftmals versuchen, die Welt der Musik anzugehen. In dieser Beziehung ist Johnson ein Konservativer.

PIANONews: Spielen Sie ausschließlich eine bestimmte Flügelmarke?

Graham Johnson: Nun, natürlich muss man in der realen Welt leben, und da muss ich auch von Zeit zu Zeit einmal auf einem Yamaha spielen. Aber in der Regel spiele ich Steinway, da sie mich am meisten überzeugen. Steinway hat Flügel, die für mich wie eine leere Seite sind, auf der ich meinen Klang kreiere. Andere Instrumente verführen den Spieler, einen bestimmten Klang hervorzubringen. Ich bevorzuge es, eine leere Klangseite zu haben und dann manches Mal einen hässlichen, auf der anderen Seite einen wunderschönen Klang zu produzieren. Ich denke, die Idee des eingebauten Klangs ist diese leere Seite. Und auch viele Klaviertechniker wollen einen Klang in das Instrument bringen. Sie erkennen nicht, dass sie ein Instrument so vorzubereiten haben, dass es viele Möglichkeiten offenbart, aber diese Möglichkeiten vom Pianisten gefunden werden müssen. Wenn man selbst nicht die Fähigkeit besitzt, einen Klang zu kreieren, dann gibt es bestimmte Instrumente, die wunderbar zu spielen sind. Aber man braucht keine technischen Fähigkeiten, um diesen Klang zu erzeugen, sondern man sagt nur: Oh, welch schöner Klang. Aber wenn man den Klang verändern will, dann kann man es nicht.

PIANONews: Ist es nicht so, dass gerade ältere Instrumente, also solche aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine größere Option im Klang haben, Grade wenn es darum geht, Sänger zu begleiten?

Graham Johnson: Es kommt darauf an. Viele dieser älteren Instrumente, die sich in Privatbesitz befinden, haben diese besondere Qualität. Und man findet diese Dinge in allen Bereichen des Lebens, die Qualität des Drucks von Büchern, die Qualität von Papier. Selbst wenn man an ein Lexikon denkt. Ich beispielsweise mag für meine Literatur-Forschungen die Ausgabe von Brockhaus 1820, die ich habe. Oder diese dort [zeigt auf eine Brockhaus-Ausgabe im Regal] ist die Weimarer Ausgabe, die meiner Meinung nach der Höhepunkt der deutschen Druckkunst ist. Nachdem Deutschland wieder auf die Beine gekommen war und alles sich mit großer Geschwindigkeit entwickelte, in Bezug auf die Technik, auf die Sorgfalt und die Erziehung, wurde alles schlechter. Und dies gibt es auch im Bereich der Instrumente, es gibt einige sehr schöne. Aber es ist nicht das, was man als ein gutes Instrument bezeichnen würde. Man muss schon ein Genie von einem Klaviertechniker haben, der in der Lage ist, solch ein Instrument aufzubereiten, einen wie Ulrich Gerhard. Diese Leute sind brillante Techniker, die die Fähigkeiten eines solchen Instruments, das aus der Fabrik kommt, in das Instrument hineinbringen. Das heißt: Wenn man ein gutes Klavier hat und es mit einem hervorragenden Techniker pflegt, dann gibt es gute Instrumente, auch aus vergangenen Tagen.
Leider haben wir Pianisten immer eine lange Zeit zuzubringen, um ein schönes Instrument zu finden. Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, die sehr mit dem Mittelpunkt meines Klavierspiels zu tun hat. Ich wurde in Zimbabwe geboren, einem Land, wo es heutzutage ein täglicher Alptraum ist, zu leben – meine Mutter und mein Bruder leben immer noch dort. Natürlich wegen Mugabe, der ein pathologischer Machtbesessener ist. Nun, in Südafrika gab es eine sehr lebendige Klavierspielkultur, auch gute Klavierlehrer. Ich aber war auf dem Land im Norden, in Zimbabwe halt. Und wir hatten dort sehr wenig Gesang-Kultur. Meine Kenntnis rührt also komplett aus der Zeit, als ich nach Großbritannien kam, das war, als ich 17 Jahre alt war. Aber meine Ursprungsstudien hatte ich in Zimbabwe. Dort hatte jeder Klaviere für die Studenten, und es gab einen Flügel, einen Steinway, auf dem ich als Kind spielen konnte, als ich Konzerte mit dem Orchester dort gab. Es war ein riesiges Instrument, das man kaum spielen konnte, da die Mechanik zu schwergängig war. Klaviere, die es zu kaufen gab, waren zu dieser Zeit von Petrof. Das heißt: Die Klangqualität war niemals auf meiner Agenda in meinen frühen Klavierstudien. Fingersätze, Akkuratesse und all das galt es zu können. Aber keiner erzählte mir, dass man auch etwas Magisches mit einem Klang erzeugen kann.
Als ich nach London kam, hatte ich natürlich kein Instrument, ich war gerade 17 Jahre alt. Ich hörte davon, dass eine alte Dame, Helen Barlow, die anscheinend krank war, und die jemanden suchte, der für sie spielte, ein Instrument hat. Ich fragte also, wo dies sei. Man sagte mir: Wembley Street Nr. 10. Dies war dann tatsächlich ein Raum, wo man von dem Fenster aus direkt auf den Eingang der Wigmore Hall sehen kann. Und wenn man sich anstrengte, dann konnte man den Künstlereingang sehen. Lange Jahre, bevor ich dort spielte. Ich kam also zu dieser Dame, die mir sagte, sie sei gar nicht krank, sondern wollte nur eine nette Person mit dem richtigen Herzen, um ihr Instrument zu spielen. Ihr Vater war Königin Victorias Arzt, Sir Thomas Barlow. Sie lebte also in den 60er Jahren allein in diesem palastähnlichen Haus in der Wembley Street. Und im ersten Stock befand sich ein Raum, der seit dem 19. Jahrhundert sicher nicht mehr umdekoriert worden war, voll von Bildern von Turner und anderen. Und dort stand ein Steinway, mit Rosenholz-Furnier und mit runden Beinen, die zeigten, dass dieses Instrument aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammte. Und dieses Instrument wurde mein Lehrer – ich erhielt einen Schüssel zu dem Haus und in diesem Raum improvisierte ich stundenlang, und das Instrument zeigte mir Dinge, die mir kein Lehrer gezeigt hatte. Ich fand Farben in ihm, auch in der Verschiebung. Und mit dieser Erfahrung als 17-Jähriger – anstatt auf einem Pianino zu üben – wurde ich durch Zufall beschenkt. All mein Üben fand auf einem noblen Instrument statt, so dass mich die Sonorität entdecken ließ, das sich unter meinen Fingern etwas entwickelte, was ich selbst kreieren kann. Und das war das Wertvollste überhaupt.
Ich denke also, dass Studenten hervorragende Instrumente benötigen, wenn sie 17 oder 18 Jahre alt sind. Wenn sie solche Instrumente haben, dann wird bereits in diesem Alter eine Klangkultur geformt.

PIANONews: Aber denken Sie nicht, dass es gerade am Anfang auch wichtig ist, dass man die richtige Technik entwickelt, dass man sich in der richtigen Art am Instrument bewegt?

Graham Johnson: Bis zu einem gewissen Grad muss eher geschehen. Ich wurde sehr gut bis zu diesem Zeitpunkt unterrichtet, aber das, was Klang hieß, war nicht dabei. Ich wurde nur so erzogen, dass ich keinen hässlichen lauten Klang erzeugte, diese Art des englischen Unterrichtens, die mit Harold Praxton, Myra Hess und anderen ihre Ursprünge hatte. Und diese Tradition erklärt auch bis zu einem gewissen Grad das Spiel Gerald Moores, der solch einen wunderschönen natürlichen Klang hatte. Und Moore war mein Mentor und ein großer Freund, fast so etwas wie ein musikalischer Großvater.

PIANONews: Sie hatten Unterricht bei Gerald Moore, richtig?
Graham Johnson: Mehr als das, ich wurde wie ein Sohn für ihn. Er kam zu meinen Konzerten, schrieb mir Briefe, überließ mir seine Noten, sein Klavier. Ich war fast so etwas wie ein Familienmitglied.

PIANONews: Wann war das?

Graham Johnson: Das war in den Siebzigern des 20. Jahrhunderts. Ich meine, er unterrichtete mich niemals offiziell, aber er nahm mich unter seine Fittiche. Ab dem Alter von 25 Jahren an kam ich ihm sehr nah. Ich fuhr oft in sein Cottage in Buckinghampshire und verbrachte dort viel Zeit mit ihm und seiner Frau Ina, die auch eine ganz ungewöhnliche Person war. Und dort redeten wir Stunden und Stunden über alles, über das Geschäft, über Musik – Walter Legge war oft das Thema der Diskussion. [er grinst]
Moore hatte diesen weichen, fetten Klang, der etwas von englischer Klaviertechnik hat. Und dieser Klang mag nicht jedem in Bezug auf Solorepertoire gefallen, aber er ist extrem schön in der Kombination mit der menschlichen Stimme. Diese englische Tradition der Liedbegleitung hat aber nichts mit dem Temperament zu tun, sondern mit einem bestimmten Gefühl, bei dem es immer um die Schönheit des Klangs geht, der rund und unterstützend sein muss. Das heißt: Wenn man einen harten Klang spielt, dann kann die Stimme nicht folgen und ebenfalls diesen harten Klang formen, die Stimme benötigt Zeit, sich auszudrücken. Es ist eine Art zivilisierte Unterhaltung, ohne Diskussion, ohne Schreien.

PIANONews: Also geht es letztendlich darum, aus dem Klavier ein singendes Instrument zu machen?

Graham Johnson: Nun, es geht um die Qualität des Atmens, um die zivilisierte Unterhaltung mittels des Klangs. Das ist es, worum es vor allem in der englischen Schule geht.

PIANONews: Neben Gerald Moore war es Geoffrey Parsons, der sehr wichtig und beeinflussend für Sie war?

Graham Johnson: Auf eine vollkommen andere Art. Als ich 1972 in dieses Haus hier einzog, wohnte Parsons nur ein paar Minuten von hier. Sein Partner, Eric Verdier, war ein sehr bekannter Gesangslehrer in London. Ihn traf ich zuerst und spielte für seine Unterrichtsstunden. Und so bekam ich Kontakt zu Geoffrey. Geoffrey war nicht wirklich ein Teil der britischen Tradition. Er unterrichtete sehr gut Klavier in Australien. Er kam in den frühen 50er Jahren nach England. Und schnell wurde er einer der besten Pianisten überhaupt, weniger bekannt als Liedbegleiter, das kam erst später in seiner Karriere. Er war ein perfekter Pianist, er machte keine Fehler. Wenn ich zurückblicke, dann habe ich von ihm vor allem über das Musikgeschäft viel gelernt. Er empfahl mich, nachdem er ein paar Konzerte mit Elisabeth Schwarzkopf hatte, obwohl ich noch sehr jung war. Und so hatte ich viel mit Schwarzkopf und Walter Legge, ihrem Ehemann, zu tun, was unvergesslich ist – auch wenn Legge sehr stressig war. Und er hat mich auch für eine Tournee mit Victoria de los Angeles in den USA empfohlen, die 1977 stattfand. Und das war natürlich eine großartige Chance für mich, auf eine solch große Tournee mit einer Sängerin ihres Formats zu gehen. Auch wenn man als junger Begleiter immer dem Sänger folgt – es ist witzig, man findet immer jüngere Begleiter mit älteren Sängern und junge Sänger mit älteren Begleitern. Und das hat alles seine Berechtigung: Die jungen Begleiter lernen von den älteren Sängern und die jungen Sänger von den älteren Begleitern.

PIANONews: Und dann gibt es noch einen weiteren wichtigen Namen in Ihrem Leben: Benjamin Britten.

Graham Johnson: Oh ja – oh ja!

PIANONews: War der Einfluss groß aufgrund seiner Qualität als Komponist oder aufgrund seiner Qualitäten als Pianist, denn er war ein großartiger Kammermusiker und Liedbegleiter?

Graham Johnson: Nun, ich sage Ihnen etwas: Heutzutage gibt es nur ganz wenige Pianisten, die überlegen: Oh, ich will Liedbegleiter werden, zumindest beginnen sie nicht auf diese Art. Man beginnt mit Sonaten, mit Präludien und Fugen. Als ich mein Stipendium von Zimbabwe erhielt, das die einzige Chance für mich bedeutete, Zimbabwe zu verlassen, erhielt ich eines dieser begehrten Stipendien, die für einen einzigen Studenten nur alle zwei Jahre vergeben wurden. Für mich war das auch die einzige Chance, den Militärdienst zu umgehen, um für das weiße Regime gegen Mugabe zu kämpfen.
Als ich kam also 1967 mit diesem Stipendium nach London kam, hatte ich noch gar keinen Gedanken daran verschwendet, Begleiter zu werden. Was ich wirklich wollte, war, ein Komponist zu werden. Und ich denke immer noch: Wenn man ein Komponist werden will, aber dann letztendlich etwas anderes macht, dann gibt es einem eine gute Perspektive auf das Leben – dass man zwar weniger als seinen Traum lebt, aber dass man weniger eitel wird. Ich weiß, dass ich nicht meinen Traum lebe, so fühle ich mich heute als Diener der Komponisten und ‚der Komponist hat immer Recht’. Und als ich Brittens Musik entdeckte, wurde ich ein kompletter Britten-Fan. Ich kannte all seine Musik und ich schrieb ihm – und ich werde niemals den Brief vergessen, den ich von ihm zurückerhielt. Ich wurde ein Teil seines Zirkels. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich dann schon, dass ich Begleiter werden wollte, hatte schon den Einfluss von unterschiedlichen Menschen. Aber das ausschlaggebende Moment war ein Nachmittag im Jahre 1971. Ich war in der Albert Festival Hall und hörte Peter Pears und Britten mit der ‚Winterreise’ von Schubert. Sie können sich den Einfluss dieser Darbietung nicht vorstellen. Diese beiden großartigen Künstler – und wenn ich darüber nachdenke, glaube ich, dass ich niemals etwas Ähnliches erlebt habe. Es war ein Werk, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich kannte. Ich entdeckte dieses Werk, hörte diese Stimme von großer Humanität, hörte dieses Klavierspiel. Und ich kam aus dieser Aufführung und wusste: Wenn ich nicht komponieren kann wie Britten, dann wollte ich wenigstens so spielen wie er bei dieser Aufführung. Es war eine lebensverändernde Erfahrung – ich denke, dass fast alle jungen Menschen solch eine Lebenserfahrung machen.
Bis zu diesem Zeitpunkt bedeutete mir Beethoven alles als Komponist. Und nun entdeckte ich plötzlich Schubert, der tatsächlich so großartig war, wie man immer sagte. Und ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass irgendjemand, der in derselben Epoche wie Beethoven gearbeitet hat, auf diese Art großartige Musik schreiben könnte. Und dies ist in den letzten Monaten von Beethovens Leben entstanden, im Februar 1827.
Wenn ich heutzutage aufwachsen würde, wäre es viel leichter, die Musik Brittens zu entdecken. Aber zu meiner Zeit war es so, dass nur die Musik von Stockhausen oder Boulez etwas galt. Wenn man gesagt hätte, man würde Brittens Musik mögen, wäre man angespuckt worden. Ich war also schon infiziert mit einer Musik, die man als bereits zum Tode verurteilt ansah. Heute ist das anders. Und wenn man dies im Hinterkopf hat, dann erklärt sich auch, warum ich letztendlich den Traum vom Komponieren aufgab. Ich wollte nicht wie Stockhausen sein, nicht wie Nono, ich wollte Musik schreiben wie Britten. Dies wäre zu dieser Zeit unverzeihlich gewesen. Wenn man heute Lieder wie Rachmaninow schreibt: O.K. Wenn man solche wie Steven Sondheim schreibt, O. K. Doch heute, habe ich das Gefühl, gibt es zu viel O. K., so dass die Qualität leidet. Heute ist allerdings alles anders, heute gelten andere Werte, vor allem für die jungen Leute.

PIANONews: Auch für die jungen Musiker, die sich der Musik als Lebensaufgabe verschreiben?

Graham Johnson: Ich denke, an einem bestimmten Punkt gab es eine zu starke Politisierung der musikalischen Gedanken, und ich denke, heute gibt es zu wenig davon. Ich denke, vor 30 Jahren wäre das, was Georg W. Bush der Welt angetan hat, auf jedermanns Lippen, aber vor allem auf denen der Musiker. Heute ist das anders, wir haben eine recht selbstverliebte Generation – Ausnahmen gibt es allerdings immer.

PIANONews: Wie ging es dann weiter als Begleiter, nachdem Sie so schnell bereits mit so vielen berühmten Sängern gearbeitet hatten?

Graham Johnson: Ich entschied mich, alles über das Repertoire zu wissen. Ich legte mir erst einmal eine Menge Schallplatten zu, die ich immer wieder hörte. Dann sehr, sehr viele Noten. Ich habe wahrscheinlich die größte Lied-Bibliothek, die ich kenne und die in Privathand ist. Dann viele alte Aufnahmen, dann vor allem Dichtungen. Hier stehen zum Beispiel alle Bücher, die Schubert und Schumann als Quellen gedient haben [zeigt auf ein Regal]; in den Ausgaben, die die Komponisten kannten und benutzten. So geht alles zurück auf das Wort, darauf, den Text zu spielen. Dies ist eines der Dinge, die uns von anderen Musikern unterscheiden.

PIANONews: Mein Gefühl ist es, dass Begleiter weitaus mehr Kenntnisse über die Lieder haben als viele Sänger.

Graham Johnson: Ich sage Ihnen warum: Da wir das gesamte Repertoire aller anderen Musiker kennen. Wenn Sie Sopran singen, was wissen Sie über die ‚Winterreise’? Wenn Sie Bariton sind, warum müssen Sie ‚Frauenliebe und Leben’ kennen? Sie würden vielleicht ‚Dichterliebe’ kennen. Aber der Begleiter, der ‚Frauenliebe’ und ‚Dichterliebe’ kennt, hat eine bessere Perspektive. Es ist sehr ungewöhnlich für Sänger, das andere Repertoire zu kennen – nicht, dass sie nicht wüssten, dass es dies gibt.
Aber die Frage, die sich stellt, ist ja auch, was uns als Begleiter unterscheidet von anderen Pianisten. Nun, ein Lied zu spielen ist so viel mehr, als nur die Noten zu spielen. Wenn wir nur die Noten spielen würden – wunderbar schön –, dann könnte jeder Solopianist Lieder begleiten, mit Erfolg. Aber – es tut mir leid, dies zu sagen: So ist es nicht. Auch wenn die Noten wunderbar gespielt werden, es gibt zwei Elemente, die uns als Begleiter von anderen Pianisten unterscheiden: Die Sänger besser singen zu lassen, als sie ohne uns gesungen hätten. Etwas aus dem Sänger herauszuholen, das tief in ihm verborgen ist, und was ihnen Potenzial verleiht, sie befähigt, besser zu singen. Viele junge Sänger brauchen sehr viel Unterstützung, sehr viel Hilfe auf der Bühne, ansonsten sind sie verloren. Als Begleiter hat man eine große Verantwortung, man muss den Sänger durch das Konzert bringen, egal wie talentiert er ist. Es ist wie ein Vogel, der das Fliegen lernt. Und der Begleiter ist hinter ihnen, im Nest, und gibt ihnen Rückhalt.
Ich hatte einmal einen Fall einer Sängerin an der Juilliard School, die mir sagte: Ich werde alle Pianisten vorspielen lassen und werde den besten Solisten auswählen, um mich zu begleiten. Ich antwortete nur: Ja, ich brauch eine neue Niere, aber ich werde den besten Hirnchirurgen fragen, ob er es machen kann, da er berühmter ist. [er lacht]
In jedem Feld gibt es eine Spezialisierung, ob in der Medizin oder bei Anwälten. Und ich denke, dass es einen Grund für diese Spezialisierung gibt.
Bei den Pianisten, die begleiten, gibt es eine sehr weite Spanne an Qualität. Da sind solche, die das Begleiten sehr ernst nehmen, die einen Hintergrund in der Erziehung haben und die wissen, was es bedeutet. Aber es gibt halt auch sehr viele, die dies nicht sehen und hören.

PIANONews: Wie sehen Sie also die Zukunft des speziellen Feldes an Liedbegleitung, gerade wenn es um die Ausbildung geht?

Graham Johnson: Nun, natürlich gibt es Kurse in ganz Deutschland, England und Amerika, wo man sich weiterbilden kann. Es gibt in den USA einen Doktorabschluss in Liedbegleitung bei Martin Katz, es gibt die Guildhall School hier in London, wo ich unterrichte, Hartmut Höll ist in Karlsruhe, David Lutz in Wien, Wolfram Rieger in Berlin.
Aber: Was ist die Motivation für einen jungen Pianisten, Liedbegleitung zu unterrichten, wenn er am Ende des Tages nicht wirklich begleitet hat? Nun, diese Pianisten werden dennoch von den Schallplattenfirmen angerufen, um mit einem Sänger auf dem Cover zu erscheinen. Wie das möglich ist? Man schneidet, schneidet, schneidet, verändert die Balance und so fort. Keiner aber wird es fertig bringen, den Sänger besser singen zu lassen, als er ohne ihn gesungen hätte. Es ist dieselbe Frage: Wie ist es möglich, ein schlechtes Instrument besser klingen zu lassen als es ist? Nun, wenn ich jahrelang ein gutes Instrument gespielt habe, rufe ich diese Erinnerung an den Klang ab, wenn ich an dem schlechten Instrument sitze. Wenn ich am Klavier sitze, kann ich jahrelange Erfahrungen mit Sängern abrufen, die diese Werke in unterschiedlicher, aber oftmals wunderbarer Weise interpretiert haben. Und man kann diese Erfahrungen auf den Sänger, mit dem man arbeitet, transferieren und kann den Sänger dadurch stützen. Das funktioniert allerdings nicht, wenn man nur mit den größten Sängern im Aufnahmestudio gearbeitet hat, wie es einige Kollegen von mir getan haben. Nein, man muss viele Jahre mit den schlechten und mit denen, die es nicht schaffen, zu singen, gearbeitet haben. Allerdings: Was wir nicht tun können: Wir können keinen schlechten Sänger in einen besseren verwandeln.

PIANONews: Also ist die Erfahrung das wichtigste Element für einen Begleiter?

Graham Johnson: Ich denke, ich kenne kein anderes Feld, wo einem die Erfahrung so viel Fähigkeiten vermittelt wie in diesem Bereich. Man wird gut, wenn man 30 Jahre ist, zumindest, wenn man mit 20 begonnen hat. Mit 40 Jahren ist man dann on Top of the Game.

PIANONews: Macht es Ihnen immer noch sehr viel Spaß, viel mit jungen Sängern aufzutreten, sie zu unterstützen, mit ihnen zu arbeiten? Denn es klingt, als ob es vielfach sehr viel Arbeit bedeutet, dass es auch manches Mal auslaugt.

Graham Johnson: Was einem Musiker, der älter wird, weniger Spaß macht, ist das Reisen und die Umstände des Reisens. Das macht müde, aber es ist die Zukunft der Form dieses Lebens. Und ich war erstaunt und glücklich immer wieder, wenn ich Meisterklassen gebe, zu sehen, dass es kein Decrescendo gibt, wenn es um junge Menschen geht, die wirklich begleiten wollen, die singen wollen. Das bedeutet: Egal wo, es gibt immer noch die gleiche Anzahl an Studierenden, die genau das tun wollen. Aber worum ich besorgt bin, ist das Publikum. Und momentan gibt es neben all den anderen auch noch die vielen sehr talentierten Studenten aus China. Und ja, es macht Spaß, sie zu unterrichten. Wenn sie hier in mein Haus kommen, und ich zeige ihnen die Erstausgabe eines Werks oder die Erstausgabe einer Dichter-Ausgabe, dann ist dies Freude.

PIANONews: Und die Entwicklung dieser Studenten zu sehen, muss doch auch Freude bereiten, oder?

Graham Johnson: Oh ja. Aber was den größten Anteil an all dem hat, ist die Erziehung. Die Kultivierung. Das Lied ist ein Thema für Intellektuelle, die immer schon – so wie ich hier – Regale mit Büchern und Noten füllten. Es waren immer belesene Leute. Und manchmal kommen die jungen Musiker mit all ihrem Talent und haben keinen guten literarischen Hintergrund. Und einem jungen Pianisten, der begleiten will, zu erklären, dass er sich auch für einen Sprachkurs entschieden hat, ist schwer. Man muss Deutsch und Französisch lernen. Und bei den Sängern ist es selbstverständlich, dass sie es machen müssen, da sie Lieder in dieser Sprache singen müssen. Aber dass ein Pianist dies auch tun muss, um die Lieder richtig zu lesen, verstehen wenige. Das ist die Enttäuschung, die ich in der jungen Generation sehe. Selbst Leute, die etwas älter sind, scheinen noch besser erzogen zu sein, was das angeht, als es heute die jungen Leute sind. Und ich sage Ihnen eine gute Sache über die DDR: Beispielsweise Sänger wie Olaf Bär und Goerne kamen aus dieser Zeit, aus diesem traurigen Land mit einer guten Kenntnis der Klassiker, von Goethe und Klopstock. Im Westen kannte man Böll, Hesse und andere. Der Hintergrund der Literatur des 19. Jahrhunderts geht in den Charakter der Person ein. Und da gibt es heute Lücken, große.

Es ist hart, zu sagen, aber wir müssen an einen Zeitpunkt gelangen, an dem wir kulturelle Dinge und geistige Werte höher schätzen, als wir es heute tun. Und manchmal frage ich mich, ob es nur eine Katastrophe sein kann, die uns an den Punkt bringt, tiefer in die Dinge zu schauen, und nicht so oberflächlich. Denn ich glaube, dass die neunte Sinfonie von Beethoven in diesen Momenten ein besserer Begleiter ist als die Musik von Coldplay.

PIANONews: Kommen wir kurz auf Ihre CD-Einspielungen, die Sie vor allem seit langem für Hyperion vornehmen. Da ist eine komplette Einspielung der Schubert-Lieder und der Schumann-Lieder. Und nun spielen Sie etliche CDs mit französischen Liedern ein ...

Graham Johnson: ... die aktuellen Einspielungen sehen eine Kompletteinspielung der Brahms- und der Poulenc-Lieder vor. Ich hab ja gerade die Fauré-Lieder beendet. Ich habe auch gerade ein großes Buch über Fauré und seine Lieder beendet, das bald erscheinen wird.

PIANONews: Was interessiert Sie so sehr an diesen Komplett-Einspielungen? Ist es wichtig?

Graham Johnson: Für die Schubert-Lieder ist es in jedem Fall wichtig für mich. Kompletteinspielungen sind wichtig für viele Leute, auch um die Hintergründe der Entstehungen und der Entwicklungen besser zu verstehen. Allerdings wäre ich nicht sonderlich an einer Kompletteinspielung aller Strauss-Lieder interessiert, da ich denke, dass seine gesamten Lieder uns nichts wirklich Neues aufzeigen. Aber die kompletten Schubert-Lieder, vor allem in der chronologischen Reihenfolge sieht man die Entwicklung dieses unglaublichen Talents. Ein Talent, das sich selbst durch Erfahrung geschult hat.

PIANONews: Vielen Dank für dieses Gespräch.

Die Aufnahmen von Graham Johnson sind derartig zahlreich, dass es kaum möglich ist, eine Auswahl zu treffen. Bitte schauen Sie unter www.hyperion-records.co.uk um sich einen Überblick zu verschaffen.

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