Pianonews 03 / 2006

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"Der Musik einen Dienst erweisen..."

François-Joël Thiollier

Von: Carsten Dürer


Geboren in Paris, spielte er sein erstes Konzert im Alter von fünf Jahren in New York. Als Kind studierte er in Frankreich bei Robert Casadesus und anderen hervorragenden Lehrern des Pariser Konservatoriums. Anschließend ging er zu Sascha Gorodnitzki an die Juilliard School of Music. François-Joël Thiollier gewann acht erste Preise bei internationalen Wettbewerben, darunter – als erster nicht-russischer Pianist – 1966 der Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb und 1968 der Brüsseler Königin-Elisabeth. Doch das ist nur ein kleiner Auszug aus der Biografie eines Pianisten, der viel mehr als dies zu bieten hat. Als wir den heute 63-Jährigen treffen, macht er bald schon deutlich, dass er nicht so sehr über sich selbst reden mag, sondern vielmehr über Musik, über die pianistische Welt. Und er hat deutliche Ansichten, die spannend sind.



Und da gibt es – trotz der entspannten Atmosphäre in einem Café – keinen wirklichen Smalltalk. Und das ist gut so. Als wir auf die scheinbar so geschlossenen Märkte der klassischen Musik in der Welt zu sprechen kommen, in denen Künstler es schwer haben auszubrechen, um ihren Namen auch im Rest der Welt bekannt zu machen, sagt er: „Nun, das ist in Großbritannien so, in Frankreich, in Australien. Und wenn wir nun über das ‚Geschäft’ reden, dann ist es heute für Sponsoren interessant, chinesische Pianisten zu fördern, weil dies gut fürs Geschäft ist. Aber das ist mehr politisch als musikalisch beeinflusst. Ich glaube allerdings nicht an solche interkulturellen Dinge.“ Und er weiß, wovon er spricht. Denn auch für ihn war es sehr lange schwer, in den englischen Markt zu kommen. „Es gibt halt Gruppierungen, die sehr stark sind, und wenn man mit diesen nicht paktiert, dann ist es fast unmöglich, dort aufzutreten.“

Doch ein wenig wollen wir dann doch über ihn selbst erfahren, über seinen Werdegang. „Ich fand recht spät heraus, dass ich in der Mozart-Klinik in Paris geboren wurde“, beginnt er. „Doch meine Familie blieb nicht lange in Paris. Mein Vater war Professor für französische Sprache und Literatur und bekam eine Anstellung an der Columbia University in New York. Es war eine eigenwillige Familiensituation. Die Sprache meiner Mutter war Englisch, die meines Vaters Französisch. So sprachen wir zu Hause fast nur Französisch, aber meine Erziehung und Ausbildung erhielt ich in Amerika, mit vielen französischen und russischen Lehrern.“ In Deutschland spielte er zuletzt das 2. Klavierkonzert von Brahms und sagt dazu: „Eigentlich sollte ich gerade dies nicht in Deutschland spielen, sondern eher in Amerika, da es kaum französische Pianisten gibt, die Brahms spielen. Und ich liebe Brahms, aber er wird meist als Nachfolger Beethovens gesehen, zu dem er so sehr aufblickte. Doch er hatte auch Bach als Vorgänger, zu dem er sich selbst auch bekannte. Und es gibt da eine Sache, die sich bei mir über die vielen Jahre seither nicht geändert hat: die Liebe zu Bach.“

Seine ersten Ausbildungsjahre verlebte er in Amerika bei unterschiedlichen Lehrern, dann in Frankreich, was er heute als Vorteil zu schätzen weiß: „Es hat mir geholfen, einen deutschen, einen amerikanischen, einen französischen und einen russischen Einfluss zu haben. Das hilft einem nämlich, bestimmte Werke nicht in einem besonderen Stil oder genau so und so zu spielen. Aber natürlich ist das nicht gut für die Reputation. Die Leute lieben es, Spezialisten zu haben, sie wollen einen Markennamen für eine bestimmte stilistische Richtung haben.“ Damit, mit all diesen Einflüssen, und damit auch mit einem sehr subjektiven und personalstilistischen Zugang zu den Werken, kann man Thiollier nicht in eine bestimmte Schublade stecken. Und er merkte es schon im vergangenen Jahr, als wir uns unterhielten: „Nun kommt das Mozart-Gedenkjahr auf, und es kommen Dinge zurück, die mich schon lange verfolgen. Und als ich 1968 den Brüsseler Queen Elisabeth-Wettbewerb gewann, war ich der Erste seit langem, der ein Mozart-Konzert im Finale spielte. Dabei hatte ich auch andere, virtuose Werke gespielt, Prokofieff, Liszt und anderes. Und schon bald hatte ich einen Stempel: der feine und elegante Mozart-Spieler. Überhaupt sind diese Adjektive seither immer wieder benutzt worden, um mein Spiel zu charakterisieren: fein und elegant.“ Also spielte er bis zum nächsten Wettbewerb in Brüssel extrem viel Mozart. „Aber wenn ich ein ‚normales’ Programm spielte, mit Rachmaninoff oder anderen Werken, dann wurde schnell gesagt: Oh, aber er ist doch Mr. Mozart und nun hat er sich auch in einen normalen Pianisten verwandelt. Und man wunderte sich auch, dass Thiollier das auch spielen kann“, lacht er über diese Erfahrung. Dennoch liegt seine größte Bewunderung in der klassischen Periode „aufgrund der kulturellen Ausbildung, die ich erhalten habe“ und den Werken am Ende des 19. Jahrhunderts und denen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, „das heißt: Debussy, Ravel, Skrjabin, all die russischen Komponisten. Das fasziniert mich, da es nicht so artifiziell war, im Gegensatz zu dem, was zuvor geschrieben wurde.“ Und er erklärt auch, dass selbst ein Richard Strauss einmal sagte, dass er zu gewohnteren Klängen zurückkehren würde, da das Publikum seine modernen Ideen noch nicht verstehen würde.

„Wissenschaftler haben auch herausgefunden, dass ein Mensch nur eine bestimmte Anzahl an emotionalen Stimulierungen verarbeiten kann, das sind ungefähr bis zu 21 Stück pro Sekunde. Wenn es mehr werden, zu viele unterschiedliche Parameter, beispielsweise aufgrund von Klangschichtungen oder Ähnlichem, dann kann ein Mensch diesen nicht mehr folgen. Es gab also in dieser Zeitperiode diese Limitierung der Geschwindigkeit, die Limitierung der Harmonie und der Rhythmik. Und dann kam Technologie mit ins Spiel. Und die Folge waren die vielleicht intelligentesten Werke überhaupt, aber auch – es tut mir Leid, das sagen zu müssen – die am wenigsten musikalischen.“ Worauf er hinauswill, ist eine einleuchtende und nachvollziehbare Begründung für seine Repertoire-Vorlieben: „Das bedeutet: Wenn man die Natur weglässt, kommt sie niemals zurück.“ Und er hat auch in diesem Zusammenhang ganz deutliche Ansichten über das Spiel auf einer Bühne, über das Auftreten als Künstler: „Und das macht auch die Möglichkeiten eines wirklichen Künstlers aus, der auf die Bühne geht. Er sollte nicht auf die Bühne gehen, wenn es da keinen Moment der Kommunikation gibt, dann gibt es keinen Erfolg. Das soll nicht heißen, dass es eine Schande ist, wenn man dies nicht kann oder hat. Es gibt Personen, die genau diese Fähigkeit nicht haben, der Musik einen Dienst zu erweisen und über sie zu kommunizieren. Und so kommt es dazu, dass die Menschen Stars auf der Bühne konstruieren, die vielleicht eine interessante Persönlichkeit haben, aber nicht die natürliche Musikerpersönlichkeit.“ Dabei sagt er noch, dass heutzutage junge Pianisten oftmals die wunderbare Fähigkeit haben, alles zu spielen, aber nur auf den schnellen Effekt auf der Bühne aus sind, den „Zirkuseffekt“, wie er sich ausdrückt: „Aber Musik ist für mich viel zu wichtig, als dass ich auf solche Effekte aus wäre.“ Und dennoch: Machen diese heutigen Persönlichkeiten nicht vielleicht auch einen positiven Effekt auf die breite Zuhörerschicht aus, die sich von der Person faszinieren lassen und dadurch vielleicht erst überhaupt zur klassischen Musik gelangen? „Nein, das denke ich nicht. Ich verstehe die Faszination in intellektueller Hinsicht natürlich, aber ich verstehe sie nicht in kultureller Hinsicht. Wenn man für Zuhörer spielt, dann muss man bestimmte Dinge im Spiel rot unterstreichen. Und ich sehe und höre nichts, was diese jungen Pianisten unterstreichen. Und wenn man das vergleicht mit früheren jungen Talenten, so kann man sagen, dass selbst Horowitz in seinen jüngsten Jahren extrem ernsthaft spielte.“ Er nennt auch andere Namen: „Wenn Yo-Yo Ma Haydn-Konzerte auf dem Cello spielt, dann ist das exzellentes Cellospiel, aber so weit entfernt von dem, wie es gespielt werden sollte, in Bezug auf Phrasierung und alle anderen Dinge, dass es in meinen Augen nur wenig mit wirklich guter Musikalität zu tun hat.“ Doch dann sagt er, dass er es natürlich bevorzugt, dem Spiel Yo-Yo Mas zu lauschen, da es mehr Freude macht, guten Cellospiel zuzuhören als einem, das vielleicht korrekt ist, aber langweilig. „Es ist eine andere Ebene des Spiels, und ich sage nicht, dass es nicht etwas mit Geschmack zu tun hat. Sondern es hat etwas mit Authentizität zu tun, auch wenn zu viel Authentizität die Barockmusik tötet.“ Er weiß, wovon er spricht, denn auch ihm war es in der Jugend gegeben, alles wie von selbst spielen zu können. „Ich hatte eine ‚leichte Hand’, wie ich es nenne, alles fiel mir leicht. Und heute denke ich manches Mal: Wie habe ich das damals bloß spielen können? Aber ich weiß auch, dass ich es damals nicht wirklich ernsthaft genug spielte.“ Er meint, dass er zu leicht lernte, zu leicht auswendig spielen lernte: „Und dann habe ich einfach nicht mehr in die Noten geschaut, was dort wirklich geschrieben steht. Und das ist nicht akzeptabel, das ist eine unentschuldbare Sünde, moralisch gesehen. Denn in diesem Moment stellt man seine Person stärker in den Vordergrund als den Komponisten.“ Auf der einen Seite war das Spiel des jungen Thiollier also immer spontan, was gut zu nennen ist, aber auf der anderen Seite „mit nicht dem genügenden Respekt, den die Musik verlangt. Heutzutage ist es ja auch schwer, die großen Werke zu spielen. Entweder muss man etwas Neues in dem Standardrepertoire finden, was eigentlich unsinnig ist: Denn man hat es in den Werken mit Genies zu tun. Und warum sollte man versuchen sich selbst über diese Genies zu stellen, nur um zu zeigen, was man selbst imstande ist zu tun? Und es ist ja viel schwerer, das Genie hinter den Werken durch sein Spiel zu respektieren.“ Klare Ansichten für einen respektvollen Umgang mit dem Repertoire. Aber letztendlich verändern sich auch die Zeiten, in denen diese Werke vergangener Tage immer wieder erklingen, verändern sich die Zuhörer und deren Ohren und Erwartungen an diese Musik. Ist dies nicht auch wichtig zu bedenken? François-Joël Thiollier denkt kurz nach und sagt dann: „Klavierabende kommen aus der Mode, weltweit. Und so hat man nur noch die ‚Monster’ der Pianisten, die extrem viele Recitals spielen. Und dann ist es auch noch eine riesige Publicity, die nichts mit der Musik selbst zu tun hat“, meint er und will damit ausdrücken, dass es heutzutage mehr um die Zurschaustellung von Firmen, Namen oder Sponsoren geht als wirklich um die Musik.

Zurück zu dem seiner Meinung nach aufkommenden und voranschreitenden Niedergang der Klavierabende in der Welt. Warum ist dies wirklich der Fall? „Weil alle Welt Mozart, Beethoven und einen weiteren Komponisten spielt. Aber das ist kein Programm, es ist langweilig. Ein Thema für einen Abend ist unabdingbar.“ Aber das wird einem eigentlich nicht während des Studiums beigebracht. Warum unterrichtet Thiollier selbst nicht? „Nun, wenn ich einmal nicht ganz so viele Konzerte innerhalb eines Monats gebe, habe ich so viele andere Dinge zu tun, dass ich einfach keine Zeit für das Unterrichten finde. Aber wenn ich Meisterkurse besuche und den Studenten etwas sage, dann höre ich immer wieder: Das hat mir niemals einer gesagt. Und ich denke, wenn ein Lehrer es weiß, dann muss er es auch lehren. Beispielsweise Legatospiel – auch das kommt aus der Mode, habe ich festgestellt.“ Und warum? Er denkt, aufgrund der Hörerfahrung mit der Compact Disc: „All diese digitalen Medien, CD oder auch heutzutage MP3 sind so rein im Klang – und ich kaufe selbst auch all die alten Aufnahmen wieder als Compact Disc, da sie einfach zu handhaben sind –, dass man darauf achtet, nicht zu gebunden, nicht zu unrein zu spielen. Und das wiederum beeinflusst auch die Ideen der musikalischen Herangehensweisen an die Musik, wenn es um junge Pianisten geht.“

Für ihn war es wichtig, all die unterschiedlichen Einflüsse aus unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zu erhalten. Doch begonnen hat er das Klavierspiel bereits mit vier Jahren bei einem Studenten von Gorodnizki. „Meine Mutter wollte, dass eines ihrer Kinder ein Pianist wird. Sie selbst war sehr talentiert, aber begann das Klavierspiel recht spät.“ Er ist der jüngste Sohn seiner Eltern. „Später gingen wir ja für zwei Jahre zurück nach Frankreich, als ich 7 Jahre alt war. Dort hatte ich dann Unterricht bei Casadesus. Er hat mir das Wichtigste beigebracht, was ich wissen muss: zuzuhören, was aus dem Instrument herauskommt. Er sagte mir, es ist wichtiger, was aus dem Instrument herauskommt, als was du glaubst, hineinzugeben. Es war richtiger Musikunterricht, weniger der traditionelle Klavierunterricht, in dem man an bestimmten Stellen verbessert wird.“ Insgesamt hatte Thiollier ein immenses Pensum. Er spielte jeden Tag zwei Stunden Violine, eine Übung, die ihn ermüdete, wie er sich erinnert. Zudem musste er viel Schulpensum nachholen, da er in Amerika mit dem Stoff recht langsam begonnen hatte. „Ich blieb also zu Hause, lernte viel, spielte Geige, hatte anderthalb Stunden Unterricht in Komposition und Kontrapunkt, spielte Klavier und lernte für die Schule, um jede Woche eine Prüfung ablegen zu können. Und das im Alter zwischen sieben und neun Jahren. Aber ich lernte niemals moderne Musik.“ Als Vorteil dieses intensiven Studiums sieht er heute, dass man sehr früh alles lernt. „Das Problem aber war, auch als wir in die USA zurückkehrten, dass ich bereits die Uni- versität verließ, als die Gleichaltrigen erst in die Universität aufgenommen wurden. Ich war also niemals in der Altersgruppe, in die ich eigentlich gehörte.“ Als er dann für die Wettbewerbe nach Europa kam, spürte er, dass er einfach nirgendwo so richtig hineinpasste, in keine Kategorie. Er hatte die Juilliard School of Music bereits absolviert, und man erwartete nun von ihm, dass er Karriere machte. Doch er wollte noch lernen, wollte Kammermusik spielen, wollte all das nachholen, was man ihm noch nicht beigebracht hatte. „Dies ließ man nicht zu. Entsprechend habe ich eigentlich auch kein besonders gutes Verhältnis zu Frankreich, abgesehen von der Kultur und dem guten Essen“, sagt er. Und fügt hinzu, dass er tief in seinem Herzen Frankreich als Heimatland liebt. „Aber warum lebe ich heute in Italien? Nun, weil Italien mich gewählt hat. Unabhängig von der Reputation, die man hatte, wurde man anerkannt. Und als ich dorthin kam, sagte man über mich, dass ich ein Poet sei.“ Begonnen hatte die Liebe zu Italien mit einem Wettbewerb in Italien, wo seine Eltern gleich ein kleines Haus kauften, das der Sohn heute noch besitzt. „Italien war alles für mich, die erste Aufnahme, der erste Wettbewerbsbeginn. Also blieb ich dort.“ Negativ sieht er allerdings den Niedergang der Musikkultur Italiens durch die permanente Beschneidung der staatlichen Unterstützung. „Heutzutage wollen alle Leute Events, wollen mit der Klassik ins Fernsehen, um Millionen von Menschen zu erreichen, aber darüber wird die Musik vergessen. Und dann bringt man einen Typen wie diesen Bocelli ins Fernsehen, der nicht weiß, wie man singt, seine falschen Töne mit Elektronik korrigieren lässt. Es ist nur Schein, was da geboten wird, und das ist für die meisten Menschen heutzutage klassische Musik. Aber was sollen wir dagegen tun? Ich weiß nur, dass ich in den vergangenen Jahren mehr weißhaarige Menschen in den Konzerten gesehen habe als jemals zuvor. Der Pessimist in mir würde jetzt sagen, dass das Publikum immer älter wird und keine jungen Zuhörer nachrücken. Der Optimist in mir sagt: Toll, die Menschen heutzutage leben immer länger und so sind die Zuhörer auch älter, die jungen werden schon nachrücken.“ Thiollier ist Pragmatiker auf der einen Seite und ein sich einsetzender Idealist für die Musik auf der anderen, der sich nicht aufregt, aber erregen kann, wenn das ihm Liebste, die Musik, verunstaltet oder nicht ernst genommen wird.

Angesprochen auf seine Vorbilder und Lieblingspianisten sagt er: „Klavierspielen ist etwas einmaliges, ein einsamer Beruf, eine Art narzisstischer Beruf. Die Methodologie, das System, in das man sich bringen kann, wende ich manches Mal aber an: Wenn ich Klavier spiele, nehme ich mir oftmals ein großes Blatt Papier und beginne alle Namen von den Pianisten aufzuschreiben, die mir wichtig sind, oder die ich kannte. Und ich überlege mir, was kann ich von dem einen nehmen, was ich schätze, was hat ein anderer Besonderes getan. Und man kann sagen, was man will: Wir lieben und hassen einander doch irgendwie alle – das ist kein Problem. Wir wissen, wie die anderen arbeiten. Und manches Mal sind wir sauer, da wir sagen: Er ist so gut, er sollte genau wissen, wie man diese Stelle spielt.“ Und an dieser Stelle spricht er offen über die Probleme des Wissens eines Pianisten: „Es gibt diese Momente, in denen man einfach so viel mehr über bestimmte Werke oder Techniken weiß, als man umsetzen kann. Selbst wenn man ein fantastischer Pianist ist, mit all den Möglichkeiten am Instrument, bewundert man in einem solchen Augenblick das Kind, das unschuldig ans Instrument geht und es einfach richtig spielt. Und in fast jeder Karriere eines Pianisten gibt es diese Momente.“ Auf das letzte Blatt Papier schrieb er ungefähr 1.000 Namen von Pianisten, sagt er, solche von früher und heute. „Die meisten von diesen hatten irgendwann in ihrem Leben diese Krisen. Und man wundert sich, dass etliche, die man bewundert hat, verschwunden sind. Ich sage nicht, dass ich mich immer weiterentwickelt habe. Aber ich kann sagen, dass ich diese Momente des Selbstzweifels immer wieder hatte, in denen man sich einfach nicht mehr natürlich fühlt. Und in solchen Momenten kann man nicht in die Öffentlichkeit gehen. Wenn man es trotzdem tut, dann merken das die Menschen. Und wenn man eine Serie von Konzerten spielt, dann kommen die Kritiker immer in die ersten Konzerte, niemals in die letzten, die meist viel besser sind. Beispielsweise wenn man mit einem Orchester mehrere Konzerte spielt, dann sind die letzten Konzerte immer die besseren.“

Auch wenn er in Frankreich geboren ist, fühlt sich Thiollier nicht wirklich als Franzose, wird aber als solcher gesehen: „Da mein Name so französisch ist, wird man auch immer wieder für das Spielen von französischer Musik eingeladen, weniger für deutsche Musik. Auch wenn ich immer wieder sage: Wenn ich Brahms spiele, fühle ich mich nicht als Franzose.“ Seine Repertoireliste ist dagegen immens, allein 80 Klavierkonzerte führt er in der Liste, sagt aber ehrlich: „Wenn Sie mich nun fragen, wie viele dieser Konzerte ich in einer Woche spielen könnte, dann blieben allerdings nur 20 bis 25 übrig. Das sind schon recht viele. Aber die anderen müsste ich wirklich neu lernen.“ Darunter aber sind auch sehr unbekannte oder weniger gespielte Werke. Aufgenommen hat er in früheren Zeiten beispielweise alles von Rachmaninoff für RCA, seit vielen Jahren aber nimmt er für Naxos auf, hat dort vor allem Debussy und Ravel eingespielt. Dennoch lässt er sich nicht gerne einschränken, da er der Meinung ist, dass es langweilig ist, immer das gleiche Repertoire zu spielen, was überall gespielt wird. So hat er beispielsweise wohl als Einziger das gesamte Klavierwerk von Alexander Skrjabin eingespielt. „Die meisten Leute kennen diese Werke gar nicht gut genug, aber es sind extrem wichtige Werke, die Marksteine für die Musikgeschichte bedeuteten. So beispielsweise die fünfte Sonate“, sagt er und gibt dann auch zu, dass sich solche Einspielungen natürlich nicht sonderlich gut verkaufen, er sich aber vor langer Zeit in diese Musik verliebt hat. „Ich bin immer ängstlich davor, mich nicht in die Musik zu verlieben, die ich gerade neu für mich entdeckt habe“, gibt er zu und fügt hinzu: „Momentan passiert es alle drei bis vier Wochen, dass ich mich neu in eine für mich neue Musik verliebe.“ Er wird nicht müde, sein Repertoire zu erweitern, auch wenn er zugeben muss: „Ja schon, aber es wird immer härter, wenn man älter wird, sich alles zu merken und dabei die andere Musik nicht zu vergessen. Und vor allem, wenn man so viel weiß und einen immer höheren Perfektionsanspruch hat, dann wird es auch immer schwieriger, neue Werke zu lernen.“ Eigentlich gehe es nur bis 25 Jahre leicht, etwas Neues zu lernen, meint er, danach wäre es nur noch intellektuell leichter, aber es wird schwerer für die Möglichkeiten, vor allem das Gedächtnis. „Wenn ich mich daran erinnere, was ich damals alles spielte, einschließlich des Busoni-Klavierkonzertes, dann fange ich heute dabei an zu überlegen, wie viele Formeln hier und dort innerhalb der Musik zu finden sind. Und da wird es schon schwieriger.“

Heutzutage hält er bis zu sieben unterschiedliche Konzertprogramme ständig pro Saison parat. Das ist Basis, und dann kommen Sonderkonzerte mit anderen Werken hinzu. Einen roten Faden oder eine Thematik haben fast all seine Konzerte: „Ich liebe es, beispielsweise die Gegensätze und Übereinstimmungen von Chopin und Liszt darzustellen, oder aber Konzerte, die im Biedermeier beginnen, bei Czerny und von Weber, dann aber weiter gehen, zu vielleicht ernsthafterer Musik ihrer Nachfolger.“ Auf diese Weise findet er mit seinem extrem intensiven Spiel und seiner natürlichen Interpretationsweise zu dem kulturellen Interesse der Zuhörer, ohne dass diese sich überfordert fühlen. Ganz im Gegenteil: Thiollier ist ein natürlicher Spieler, einer, der der Musik ihren naturgegebenen Fluss lässt.

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