Pianonews 06 /2001

Virtuosität und Leichtigkeit

Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes

 

Von: Oliver Buslau


Leif Ove Andsnes ist der wohl international bekannteste klassische Musiker aus Norwegen. 1970 geboren, besuchte der ab 1986 das Konservatorium von Bergen, sorgte bereits drei Jahre später für aufsehenerregende Debüts und hat sich seit 1990 eine sehr vielseitige Diskografie erarbeitet. Nun hat er die 30 überschritten und gilt nicht mehr so recht als der junge Nachwuchspianist, der er einmal war. Wir sprachen mit Andsnes über seine Karriere und seine stilistische Entwicklung.

 
 
PIANONews:
Herr Andsnes, Sie haben ein sehr breit gefächertes Repertoire, das von Haydn bis zu Rachmaninoff, von Brahms bis Britten reicht. Auch ihr CD-Debüt vor 10 Jahren mit Klaviermusik von Jánacek war nicht gerade alltäglich. Warum gerade diese außergewöhnlichen Sachen?

Leif Ove Andsnes:
Ich habe mich immer für die Nischen des Repertoires interessiert. Als ich am Konservatorium begann, betonte auch mein Lehrer Jiri Hlinka, dass ich interessante Stücke spielen müsse, die die Leute nicht kennen. Er war schon fast zu extrem in seiner Haltung. Er wollte nicht, dass ich die berühmten Stücke spiele. Für mich wurde es eine Art Hobby, zu erfahren, was es an Repertoire gibt. Die Aufnahme mit Jánacek entstand sehr unter dem Einfluss meines Lehrers, weil er selbst auch Tscheche ist. In einer der ersten Klavierstunden, als ich 15 Jahre alt war, begann er, für mich zu spielen. Ich wusste nicht, was es war, wusste auch nicht, wer Jánacek ist. Aber ich verliebte mich in diese Musik. Das war sehr natürlich für mich und ich begann, alle seine Klavierstücke zu spielen. Ich fühlte mich sehr stark dabei, weil es – immer noch – die stärkste Musik ist, die ich kenne.

PIANONews:
Hinter der Klaviersonate von Jánacek steckt ja eine politische Botschaft. Er schrieb das Stück zum Gedenken an den Tod eines Demonstranten, der im Oktober 1905 für die Einrichtung einer nationalen Universität in Brünn auf die Straße gegangen war. Sie wirken auf dem Cover auch ein bisschen wie ein Revolutionär. Wollen Sie mit der Musik auch eine politische Botschaft vermitteln?

Andsnes:
Natürlich macht die Geschichte einen großen Eindruck, wenn man die Demonstration versteht und dass da jemand getötet wird. Das ist die Expressivität, die Ernsthaftigkeit und das Leid, die Teil der Musik sind. Ich denke aber, dass das so sehr Teil der Musik ist, dass man, ohne etwas über die Geschichte zu wissen, das Stück dennoch lesen kann.

PIANONews:
Kann Musik überhaupt eine politische Botschaft haben?

Andsnes:
Ich denke nicht auf diese Art. Musik kann benutzt oder aber missbraucht werden, für das Gute oder das Böse. Aber aus sich selbst heraus kann Musik nicht verletzen. Allerdings kann sie sehr leicht verletztend sein, wenn sie in die Hände der falschen Leute gerät.

PIANONews:
Von Jánacek aus hat sich ihre Diskografie sehr weiträumig entwickelt – und das in nur etwa 10 Jahren. Es reicht von Haydn bis Britten, von zeitgenössischen norwegischen Meistern bis Rachmaninoff. Wie kann man eine solche Stilfülle überhaupt bewältigen, sie sich aneignen?

Andsnes:
Als ich das dritte Klavierkonzert von Rachmaninoff spielte, war es das einzige. Heute spiele ich auch das erste. Von den Klavierstücken Schumanns habe ich nur ein paar gespielt und ein paar andere habe ich aufgenommen. Mein Repertoire ist nicht ungeheuer groß, was die Stücke angeht, stilistisch aber schon. Solange ich jung bin, möchte ich alle diese Richtungen entdecken. Später, vielleicht, so in 10 Jahren, möchte ich sicher stellen: Ich fühle, dass das hier mehr für mich ist. Ich denke, dass es gut ist. Es gibt eine Menge Pianisten, die viele verschiedene Stile gespielt haben, als sie jung waren.

PIANONews:
Also suchen Sie noch?

Andsnes:
Ja, und gleichzeitig fühle ich, dass ich viele verschiedene Richtungen spielen will, weil ich so viele verschiedene Musik liebe. Im Moment erweitere ich noch mehr: Ich spiele Bach in meinen Solokonzerten – nicht viele Stücke, aber einige. Und ich möchte mehr zeitgenössische Musik spielen. In diesem Herbst werde ich zum ersten Mal das Klavierkonzert von Lutoslawski spielen. Aber ich fühle, dass es einige Komponisten gibt, ohne die ich nicht leben könnte, wie Schumann oder Schubert.

PIANONews:
Gibt es auch welche, wo Sie sagen: „Das interessiert mich nicht“?

Andsnes:
Es gibt sehr wenige, die mich wirklich nicht interessieren. Einige spiele ich nicht, wie Ravel. Ich fühle mich nicht danach, Ravel zu spielen. Ich fühle mich mehr nach Debussy.

PIANONews:
Worin besteht für Sie der Unterschied?

Andsnes:
Ich liebe Ravels Musik. Ich liebe es, sie anzuhören. Sie ist absolut perfekt, aber ich habe ein instinktives Gefühl, dass Debussy mehr nach meinem pianistischen Gefühl ist. Vielleicht liebe ich diese Musik einfach etwas mehr.

PIANONews:
Ist sie vielleicht etwas strukturierter?

Andsnes:
Im Gegenteil. Es gibt mehr Platz für kleine Improvisationen im Detail bei Debussy. Und mehr Freude am Klang. Und in der Komposition… Bei Ravel habe ich immer das Gefühl, es gibt nur einen Weg, es zu spielen. Bei Debussy sind mehr Experimente möglich, mehr offene Stellen und Vielfalt. Bei Debussy lernt man soviel. Es ist kein Zufall, dass jemand wie Michelangeli, der sein ganzes Leben lang so vom Klang besessen war, viel Debussy spielte. Er spielte auch Ravel, aber mehr Debussy.

PIANONews:
Das ist sehr interessant. Das Œuvre von Ravel ist ja sehr klein …

Andsnes:
Es ist so wie Strawinsky es sagt. Er nannte ihn den perfektesten Schweizer Uhrmacher. Wirklich absolut perfekte Musik.

PIANONews:
Ist es für Sie wichtig, sich über den Komponisten zu informieren? Biografien zu lesen zum Beispiel?

Andsnes:
Ich mache das manchmal aus Neugier und weil es mich interessiert, aber ich mache das nicht systematisch.

PIANONews:
Sprechen wir über Musik aus Ihrer Heimat Norwegen. In Mitteleuropa verbindet man Musik aus Norwegen oft mit der charakteristischen Landschaft. Wenn das Publikum in Deutschland Grieg hört, glaubt es immer, die Musik sei von der Landschaft beeinflusst. Können Sie das nachvollziehen?

Andsnes:
Bei Grieg gibt es zwei Seiten. Es gibt eine norwegische Seite und eine sehr deutsche Seite. Er hat in Leipzig studiert. Wenn man sich das Klavierkonzert anhört, welches das berühmteste Stück ist, und wenn man Bilder im Fernsehen zeigt von den Fjorden und den Wasserfällen… In Wirklichkeit ist ein großer Teil dieser Musik rein deutsche Romantik. Aber an einigen Stellen des Klavierkonzerts hat er norwegische Volksmusik eingefügt, da sind norwegische Tänze drin. Aber das sind kleine Elemente. Und später in seinem Leben wurde die norwegische Seite immer größer. Er wurde ein Patriot, weil er keine großen Sinfonien schreiben konnte. Er sagte, dass er keine Schlösser und Paläste bauen könne wie Bach oder Beethoven. Er sagte, er könne kleine Häuser und Cottages bauen, in denen die Menschen komfortabel leben könnten. Und das sind die besten Stücke von Grieg, finde ich, diese „Lyrischen Stücke“ für Klavier. Sie haben eine sehr besondere, eine harmonische Sprache. Sie sprechen sehr direkt aus dem Herzen, wie Chopin oder Schubert, auf eine sehr ehrliche Art. Und das hat oft eine norwegische Seite. Aber ich glaube, dass das, was wir bei Grieg als norwegisch empfinden, hat Grieg selbst erschaffen. Also hat er etwas erschaffen, das wir als norwegisch empfinden. Es war nicht anders herum. Grieg hat nicht etwas Norwegisches in seiner Musik verwendet, sondern er hat den norwegischen Klang erfunden.

PIANONews:
Skandinavische Musiker scheinen in der Szene auf dem Vormarsch zu sein – woran liegt das?

Andsnes:
Ich glaube, dass das an verschiedenen Dingen liegt: Die Möglichkeiten, ein Kind an die Musik heran zu führen, sind in meiner Heimat ziemlich gut. Es gibt in Norwegen ein Gesetz, nach dem jede Gemeinde in der Lage sein sollte, den Kindern Musikunterricht zu ermöglichen. In der Basis heißt das, dass die Kinder einmal die Woche zum Klavier- oder Violinunterricht gehen können.

PIANONews:
Ist das umsonst?

Andsnes:
Nein, nicht umsonst. Aber es ist sehr hoch subventioniert, so dass es nicht so viel Geld kostet. Es kostet weniger, als in einen Fußballverein zu gehen. Es ist nicht viel, vielleicht zwanzig Minuten die Woche, oder so. Das ist der eine Teil.

Und dann denke ich, dass in einem Land wie Norwegen, aus dem zum Beispiel Mariss Jansons kommt und die Osloer Philharmoniker, Persönlichkeiten große Auswirkungen auf das musikalische Leben haben. Wie mein Lehrer, der in den siebziger Jahren nach Norwegen kam und dort die vorhandenen Talente nutzte. Und wir sahen, dass es möglich ist, das zu tun. Und ich glaube, dass es noch einen weiteren wichtigen Punkt gibt: Wir haben nicht so viele Traditionen. Alles neu und frisch für uns. Um ehrlich zu sein, ich bin der erste norwegische Pianist, der eine internationale Karriere macht. Vielleicht ist es ein Vorteil. Wenn man ein junger russischer Pianist ist, dann hat man soviel Tradition – es gab Richter und die anderen. In Deutschland ist es dasselbe – man hat eine so lange Kultur. Als das Osloer Philharmonische Orchester vor vier Jahren begann, zum ersten Mal Mahler-Sinfonien zu spielen, war das eine große, grundlegende Sache. In Deutschland hat man die Sinfonien schon seit Jahren gehört.

PIANONews:
Für Sie selbst hat das Musikschulsystem keine Rolle gespielt. Sie hatten Ihre Eltern als Lehrer.

Andsnes:
Nur drei Jahre. Im Alter von fünf bis acht.

PIANONews:
Waren Sie auf der Musikschule?

Andsnes:
Nein, da haben meine Eltern mich unterrichtet und dann war ich in der Musikschule für sieben Jahre.

PIANONews:
Und dann kam Jiri Hlinka, als sie 15 Jahre alt waren. War er Ihr einziger Lehrer?

Andsnes:
Eigentlich ja.

PIANONews:
Was sind seine besonderen Verdienste?

Andsnes:
Er war ein äußerst talentierter Pianist. Er ist heute 55 Jahre alt. 1966 hat er das Finale des Tschaikowsky-Wettbewerbs erreicht. Er hat die Prokofieff-Sonaten für Supraphon aufgenommen – eine fantastische Aufnahme. Als er 25 war, bekam er große Probleme. Er hatte einen Tennisarm und hörte auf zu spielen. Dann wollte die Tschechische Regierung ihn als Lehrer ins Ausland schicken. Also bekam er die Chance, nach Norwegen oder Japan zu gehen, und er wählte Norwegen. Und dort blieb er seit 1972. Er lebte also schon eine Weile dort, als ich zu ihm kam. Ich komme aus einer kleinen Gemeinde auf einer Insel aus dem westlichen Teil von Norwegen, und ich hörte, dass er in Bergen unterrichtet und dass er fantastisch sei. Meine Eltern fuhren mich im ersten Jahr alle zwei Wochen für ein Wochenende hin. Mein erster Eindruck war: Entweder er ist verrückt oder ein Genie. Er hat so ein explosives Temperament, und ich war der schüchterne Junge von der Insel. Ich brauchte wirklich seinen Kick, um ein fanatisches Gefühl für Musik zu bekommen. Zu verstehen, dass Musik wirklich ein wichtiger Teil im Leben ist. Ich erinnere mich noch meine erste Stunde. Es ging um die dritte Sonate von Chopin, und wir erarbeiteten nur vier Seiten in drei Stunden. Er sagte: „In dieser Phrase musst du mit dem Handgelenk nach oben gehen.“ Er wollte mein Handgelenk befreien, weil ich sehr stark auf die Finger konzentriert war. Er sagte: „In zwei oder drei Jahren wirst Du das automatisch machen.“ Und er hatte Recht.

PIANONews:
Und wann haben Sie aufgehört, von ihm zu lernen?

Andsnes:
Oh, manchmal lerne ich immer noch. Es ist jetzt schon eine Weile her, aber manchmal spiele ich immer noch für ihn. Wir sind sehr, sehr unterschiedlich und ich möchte gerne eine Reaktion von ihm haben.

PIANONews:
Sie sagen in Interviews immer wieder, daß Svjatoslav Richter Ihr Vorbild ist. In welcher Hinsicht?

Andsnes:
Nicht das einzige Vorbild, aber er ist eins. Er hat einen großen Einfluss auf mich. Ich nenne es auch nicht „Vorbild“ – vielleicht tut man das in den Interviews. Er hat einen unglaublichen Eindruck auf mich gemacht, als ich anfing, seine Platten zu hören. Als ich etwa 20, 21 Jahre war, konnte ich niemand anderen hören. Ich war völlig verloren. Es war eine Bessenheit, ich kaufte alle schwarzen Mitschnitte, alles, was es gab. Seine Persönlichkeit ist so enorm, und er spielte soviel verschiedene Werke.

PIANONews:
Das heißt aber nicht, dass Sie von ihm lernen …

Andsnes:
Na ja, ich mag den Klang. Lassen Sie es mich „sinfonischen“ Klang nennen. Die Akkorde sind aneinander geknüpft, man hört jede Note. Ich bewundere aber auch manchmal Horrowitz. Aber er spielt ganz anders. Ich persönlich mag diesen abgeschlossenen Klang, der kompakt ist.

PIANONews:
Wenn sie bekannte Werke, wie Rachmaninoffs drittes Klavierkonzert, einstudieren, hören Sie sich dann Einspielungen anderer Künstler an?

Andsnes:
Ich habe das Stück natürlich oft als Aufnahme gehört. Oft kenne ich ein Stück, aber wenn ich es studiere, dann höre ich nicht wirklich CDs. Aber nach einer Weile, wenn ich es gespielt habe, dann will ich es vielleicht doch wieder hören.

PIANONews:
Haben Sie Rachmaninoff selbst gehört?

Andsnes:
Ja.

PIANONews:
Manchmal habe ich das Gefühl, er spielt Mozart. Es wirkt so leicht.

Andsnes: Ja. Aber in einigen seiner Konzerte war er sehr nervös. Beim dritten Klavierkonzert zum Beispiel war er bei der Aufnahme sehr angespannt. Für mich ist es eine unglaubliche Tatsache, dass es keine Live-Aufnahmen von ihm gibt. Nicht eine Minute. Er hatte wirklich Angst vor Mikrofonen. Aber wenn Sie mal bedenken, wie viele Konzerte er in den USA gegeben hat – 120, vielleicht 150 im Jahr. Das war unglaublich.

PIANONews:
Vielleicht gibt es irgendwo schwarze Mitschnitte …

Andsnes: Ich glaube nicht. Dann wären sie längst irgendwo aufgetaucht.

PIANONews:
Ich finde, dass man bei Ihnen, wenn Sie virtuose Werke spielen, auch eine gewisse Leichtigkeit spüren kann.

Andsnes:
Um die Musik zu hören, muss man nicht die Arbeit, die darin steckt, sehen. Ich spiele niemals etwas, um zu zeigen, was ich kann. Es muss einen musikalischen Effekt haben, einen aufregenden Effekt. Ich suche nach der Musik.

PIANONews:
Was halten Sie von David Helfgott? Er hat das dritte Rachmaninoff-Konzert als schweres Werk populär gemacht.

Andsnes:
Der Film „Shine“ war wirklich ganz gut. Ich mochte die Auswirkungen nicht, die er auf das Stück hatte. Jeder hat von sich gegeben, dass es das schwerste Stück der Erde sei. Für mich ist das nicht wichtig. Ja, es ist schwierig zu spielen, aber es gibt andere Stücke, wissen Sie. Ich studiere gerade das zweite Klavierkonzert von Bartók, das ist für mich schwieriger als das dritte von Rachmaninoff. Rachmaninoff ist sehr schwer, aber wenn man die Technik beherrscht, ist es sehr angenehm zu spielen. Aber es ist so dumm; Menschen gehen jetzt ins Konzert und erwarten das schwerste Stück zu hören. Und sie erwarten, dass der Pianist das denkt.

PIANONews:
Und auch, dass es jemand spielt der an einer geistigen Krankheit leidet. Das ist geradezu makaber.

Andsnes:
Ja, ich hoffe nur für ihn, dass es seine Situation nicht verschlechtert hat. Dieser Erfolg. Er spielte, glaube ich, etwa ein Jahr und dann finito.

PIANONews:
Wenn man sich die Haydn-Konzerte vornimmt. Ist das schwer, wenn man von Rachmaninoff kommt? Sich mit der angeblichen Leichtigkeit auseinander zu setzen, die ja ganz andere Anforderungen stellt? Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, Haydn zu machen? Das legt ja auch nicht gerade nahe …

Andsnes:
Ich habe, wie viele andere Pianisten auch, mit dem romantischen Repertoire begonnen wie Schumann, Chopin, Liszt, Grieg. Am Anfang fühlte es sich für mich nicht natürlich an, die Wiener Klassik zu spielen. Dann, etwa im Jahre `93 oder `94, begann ich Wiener Klassik zu spielen. Und für mich waren Haydn und Beethoven die beiden Komponisten, mit denen zu beginnen war.                  

PIANONews:
Nicht Mozart?

Andsnes:
Nein, nicht Mozart. Mozart ist eher metaphysisch und mysteriös, während Haydn und Beethoven so bodenständig sind. Mit Haydn kann man so interessante Sachen machen – besser gesagt: er macht es. Mit Symmetrie z.B., es gibt immer asymmetrische Perioden. Damit muss man spielen. Haydn kann auf dem Blatt ein bisschen akademisch scheinen, aber man muss ihn von der Basis befreien. Von diesen Klavierkonzerten ist das dritte berühmt, weil es wie Mozart klingt. Die anderen beiden klingen mehr nach Barock und man muss sehr frei und rhetorisch sein. Kleine Phrasen, die reagieren – hier eine charmante Phrase, da die andere … Wenn man sie wie eine lange singende Reihe spielt, ist es langweilige Musik.

PIANONews:
Das mit dem Rhetorischen ist interessant. Wie stehen Sie zur historischen Aufführungspraxis? Ist das für Sie wichtig, sich damit zu beschäftigen, wie das auf einem alten Flügel klingen würde.

Andsnes:
Ja, manchmal. Ich habe das auch schon mal versucht. Meine Generation von Musikern, steht unter dem Einfluss von Harnoncourt oder Koopmann. Ich bekomme es überall zu spüren, das rhetorische Gefühl. Wir haben einfach entschieden, es auf diese Art zu machen – mit wenig Vibrato und so weiter.

PIANONews:
Sie sind bekannt dafür, dass Sie in Ihren Aufnahmen kaum Schnitte zulassen. Wahrscheinlich auch aus Überzeugung.

Andsnes:
Manchmal gibt es natürlich Schnitte, aber ich spiele nicht gern in kurzen Abschnitten. Ich spiele nicht gerne eine Seite, um sie dann nochmal zu spielen. Ich spiele gerne komplette Sätze.

PIANONews:
Was sagen Sie zu Glenn Gould – dem Schnittkünstler par excellence?

Andsnes:
Er war völlig anders, ein Genie. Der Hauptunterschied ist, dass er nicht daran glaubte, dass etwas passiert, wenn Publikum anwesend ist und man in einem bestimmten Raum spielt. Er sagte, dass es für ihn so sei, als würde er versuchen, das zu kopieren, was er in der Aufnahme gemacht hat. Für mich ist es so, dass ich in einer Aufnahme versuche, das zu kopieren, was in einer kommunikativen Situation existiert. Er glaubte nur an den Klang. Punkt. Deshalb finde ich Aufnahmen so schwierig. Ich muss dieselbe Situation erschaffen, den gleichen Raum.

PIANONews:
Sie haben auch ein Festival in Risør. Wie ist es dazu gekommen?

Andsnes:
Es begann zuerst ohne mich. Es gibt zwei künstlerische Leiter, der andere ist Lars Anders Tomter. Er begann mit dem Festival schon im Jahr 1991, und ich spielte dort, weil ich ihn gut kannte. Dann fragte er mich, ob wir das nicht zusammen machen könnten. Es findet in einer sehr schönen Fischerstadt im Osten Norwegens statt. Es läuft sehr gut, wir haben jetzt wirklich sehr gute Musiker dort. Wir haben jedes Jahr 25 Musiker zu Gast, plus ein Kammerorchester.

PIANONews:
1997 haben Sie den Gilmore Award gewonnen. Der Preis ist mit 300.000 Dollar verbunden, die man, soweit ich weiß, in Projekte stecken soll. Was haben Sie mit dem Geld gemacht?

Andsnes:
Nicht so viel. In einem Fonds angelegt. Ich kann das Geld natürlich nicht behalten. 50.000 habe ich aber für mich verbraucht. 250.000 werden in Projekte fließen. Das einzige, was ich bisher gemacht habe, ist, ein Klavier zu kaufen.

PIANONews:
Wollen Sie das Geld auch in das Festival stecken?

Andsnes: Vielleicht auch das. Als ich den Preis bekommen habe, sagte ich ihnen: Ich nehme den Preis und das Geld, aber ich weiß jetzt noch nicht, wofür ich es verwenden werde. Vielleicht werde ich es für eine Aufnahme verwenden, wenn ich zum Beispiel zeitgenössische Musik aufnehmen möchte, was kommerziell für die EMI, meine Exklusiv-Firma, nicht interessant ist. Oder ich werde es in Kompositionen investieren, da bin ich gerade noch auf der Suche.

PIANONews:
Sie haben 1990 in einem Interview gesagt, Sie wollten ab Herbst 2000 ein halbes Jahr frei nehmen von Konzerten. Haben Sie das gemacht?

Andsnes:
Ja, das habe ich gemacht. Fünf Monate. Von Juli bis Dezember 2000. Der erste Grund diese Pause zu machen, war, dass ich es nach 10 Jahren des Reisens, in denen ich niemals längere Pausen hatte, nötig hatte. Und dann wollte ich sehen, wie es wohl ohne Konzerte sein würde. Es war gut, denn ich bemerkte, dass ich die Konzerte vermisst habe. Hätte ich sie nicht vermisst, dann wäre das ein Problem gewesen, denn dann hätte ich mich fragen müssen: Warum sollte ich das tun? Im ersten Monat habe ich das Klavier nicht angerührt. Ich ging nach draußen in die Natur und in die Berge.

PIANONews:
Wo leben Sie?

Andsnes:
In Kopenhagen und in Bergen, wo ich noch mein altes Appartement habe.

PIANONews:
Was sind Ihre nächsten Ziele? Eine Bach-Aufnahme?

Andsnes:
Das weiß ich nicht. Es ist erst der Anfang mit dem Barock, es wird also wohl noch eine Weile brauchen. Ich versuche jetzt, meinen Weg zu finden. Für mich ist im Moment Schubert sehr wichtig. Ich werde ihn nächste Woche für die EMI einspielen. Wir werden drei Sonaten-CDs aufnehmen und die werden mit Liedern zusammengekoppelt. Mit dem Tenor Ian Bostridge. Die Lieder stammen aus den gleichen Jahren, so passen sie von der Atmosphäre her zusammen. Und das Schubert-Projekt geht weiter: Im Jahr 2003 machen wir die „Winterreise“.

PIANONews:
Herr Andsnes, vielen Dank für das Gespräch.

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